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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

erste Laut. Und als hätte dieses kreischende Lallen jäh erwachter Todesfurcht die anderen aus ihrer Betäubung aufgeschreckt, so erhob sich plötzlich ein wirres Angstgeschrei in die von dumpfem Gesumm erfüllten Lüfte.

Von Wand zu Wand hin rollte das Echo dieser Stimmen – und ein verworrener Laut noch drang hinunter in die Bergschlucht, durch welche Sigenot und Recka den Weg zur Oedhütte suchten, erschöpft, mit keuchendem Atem, bis über die Hüften mit Schnee behangen. Aufhorchend faßte Wazes Tochter den Arm des Fischers. „Ich höre Stimmen ... sie schreien um Hilf’!“

Sigenot riß das Beil aus seinem Gürtel und lauschte; er hörte nur ein leises Murren in ferner Höhe und schüttelte den Kopf. „Hinter dem Eismann geht ein Lahn!“ Um dem zähen Schnee zu entrinnen, kämpfte er sich auf den steilen Berghang zu, auf dessen dünner beschneitem Gestein er festeren Weg zu finden hoffte. Recka blieb hinter ihm zurück, umklammert vom nassen Schnee, in den sie halb versank. Als Sigenot ihre Mühsal gewahrte, zögerte er und streckte die Hand nach ihr. Doch sie rief ihm mit bebender Stimme zu: „Sorg’ Dich nimmer um mich! Deine Schwester in Not! Ich folg’ Dir!“

Er wandte sich ah, begann zu klimmen und schwang sich von Stein zu Stein. Nun machte die Bergschlucht eine Wendung, und zwischen halbverdorrten Zirben fand Sigenot leichteren Pfad. Doch jählings stockte ihm der Fuß, denn er sah vor sich den gähnenden Absturz einer Felskluft, welche zu beiden Seiten von den steilen Wänden niederlief, an der einen Felswand eine finstere Höhle bildete und die Bergschlucht quer durchriß, zu tief und steil für den Niederstieg, zu breit für jeden Sprung. Mit verstörten Augen starrte Sigenot in die Tiefe, die sich vor ihm geöffnet. Es war nicht das erste Mal, daß er auf diesem Wege zum König Eismann emporstieg – doch er kannte diese Spalte nicht, ihre Wände waren gelb wie frisch gebrochenes Gestein. Als verließe ihn beim Anblick dieser Schranke seine letzte Kraft, so stützte er sich mit zitternder Hand an den Stamm einer Zirbe.

Recka holte ihn ein: „Was stehst Du?“

„Unser Weg hat ein End’! Schau’ her – der Bidem hat eine Fragel vor uns aufgerissen.“

„Schlag’ die Zirbe nieder, sie schafft uns einen Steg!“

Noch hatte Recka nicht ausgesprochen, da schwang der Fischer schon das Beil und alle Kraft schien ihm wiedergekehrt. Recka wankte zur Höhle, die sich neben der Zirbe in die Felswand senkte, und ließ sich auf einen Steinblock fallen.

Sigenot führte Schlag um Schlag und jeder Hieb machte den Stamm der Zirbe erbeben und hallte von den Wänden. Dumpfe Geräusche quollen von der Höhe des König Eismann nieder, Steine fielen, und über allen Felsen rieselte und glitt der Schnee, als wären die steilen Gehänge belebt von tausend und abertausend weißen winzigen Tierchen ...

Recka griff nach ihrem Bogen, und als sie gewahrte, daß die Sehne sich von der Feuchtigkeit des Schnees gelockert hatte, legte sie, um den Strang zu spannen, eine Schlinge über die Bogenkerbe; dann nahm sie den Köcher in ihren Schoß. Ein leises Aechzen ging unter Sigenots Schlägen durch den erzitternden Baum, und Recka hob die Augen. „Der Gipfel neigt sich schon ... schlag’ zu!“ Sie ließ die Pfeile halb aus dem Köcher gleiten. „Einen hab’ ich verloren im Schnee.“ Ueber ihre bleichen Lippen ging ein irres Lächeln. „Aber wenn es zum ärgsten kommen soll ... sieben Schäft’ noch hat mein Köcher, ich mein’, sie reichen!“ Im letzten Wort klang ihre Stimme schrill wie eine springende Saite.

„Recka!“ stammelte Sigenot, und der Schwung des Beiles stockte in seinen Händen.

„Schlag’ zu. Deine Schwester in Not! Der Baum muß fallen!“ Wieder krachten die Schläge, und schon begann der Wipfel zu schwanken. Recka saß wie mit versteinertem Antlitz, doch ihre Augen flammten. Und mit schmalen Lippen raunte sie vor sich hin: „Wie Feuer brennt in meinem Gesicht das Mal von meines Vaters Faust! Jeder Schlag der Brüder liegt wie Glut auf meinem Leib! Zeit meines Lebens haben sie Schmach und Ekel um mich her gehäuft, daß mir zu Mut’ war in ihrem Haus wie dem kranken Falken im Geiernest – und nach solchem Leben diese letzte Stund’! Sie haben mich geschlagen und geschmäht wie der Bauer im Metrausch seine Magd.“ Bebend an allen Gliedern sprang sie auf und schüttelte das Haar in den Nacken. „Ich bin gelöst von ihrem Haus! Haß wider Haß ... und Lieb’ um Lieb’! Mir sind nur noch zwei Ding’ im Leben heilig: meine Mutter, die mir lieb gewesen, und die Treu’ für Deine Schwester, die mir hold geworden ...“

Da verstummte der Beilschlag, und ächzend neigte sich die Zirbe. Reckas Blick begegnete den Augen Sigenots; sie senkte das Antlitz, zwei helle Tropfen fielen von ihren Wimpern, und ihre Stimme schwankte. „Für Deine Schwester will ich stehen und frag’ nicht, wider wen! Ich thu’, was ich muß ... und sollt’ ich drum im Leben auch nimmer Herd und Heimat haben!“

Unter dem stürzenden Baum hinweg war Sigenot auf Recka zugesprungen. „Nimmer Herd und Heimat?“ Fast versagte ihm die Stimme. „So magst Du reden, derweil ich noch leb’? Du? Und nimmer Herd und Heimat? Recka!“ Er streckte die Arme und wie ein Taumel überkam es ihn. Zitternd stand die Tochter Wazes, sie wollte sprechen, doch die Worte erloschen ihr auf den Lippen; es zuckte und kämpfte in ihrem Antlitz, und über ihre bleichen Lippen fiel es wie rosiger Sonnenglanz.

Auge in Auge standen sie, und mehr als alle Sprache hätte reden können, sagte dieser stumme Blick, der den Inhalt zweier Leben erschöpfte. Wie Feuer zu Feuer fliegt, so trieb es diese beiden zueinander. Hatte Sigenot die Geliebte an sich gerissen ... hatte Recka sich an seine Brust geworfen? Sie lagen Herz an Herz, umschlangen sich mit pressenden Armen wie in jener Sturmnacht auf dem See und in dürstendem Kusse fanden sich ihre Lippen.

Krachend fiel die Zirbe und warf ihren Stamm und ihr Gezweige über die gähnende Kluft.

War das dumpfe Brausen, welches durch die Lüfte ging, ein Echo ihres Falles? Hatte ihr Sturz die schlafenden Riesen im Gestein geweckt und sie gelöst aus tausendjährigem Bann? Wie das Rauschen eines nahenden Sturmes quoll es hernieder aus unsichtbarer Höhe, wuchs zu mächtigem Gerassel und fand ein donnerndes Echo an den gegenüberliegenden Wänden ...

Recka und Sigenot erwachten aus ihrer taumelnden Wonne und blickten um sich her mit traumverlorenen Augen. Es zitterte die Erde unter ihren Füßen, ein sausender Luftstrom peitschte ihnen Gewand und Haar, ächzend bogen sich die hundertjährigen Zirben, und brüllende Stimmen füllten die Bergschlucht. Reckas Augen glitten zur Höhe und jäh erblaßte ihr Gesicht. Sie sah das Verderben über die Felsen niederstürmen: eine weiße Riesenwolke, von braunem Rauch umflattert. Von ihren Lippen löste sich ein gellender Schrei, und die Angst des Todes sprach aus ihren erstarrten Zügen; doch nicht das eigene Leben war es, um welches sie bangte ...

„Recka!“ stammelte Sigenot und wollte die Geliebte mit den Armen schützend umschlingen, wollte sie decken mit seinem eigenen Leib. Doch sie, den einzigen Schutz erkennend, auf den in dieser stürzenden Not noch eine Hoffnung zu setzen war, stieß den geliebten Mann mit aller Wucht ihrer wilden Kraft dem Berghang zu, daß er rücklings in die Höhle taumelte. Mit hellem Aufschrei wollte sie ihm folgen, aber da fiel es schon wie weiße Sturzflut auf sie nieder, und die Steine prasselten.

Stöhnend hatte Sigenot sich aufgerafft, einen Schritt noch that er, wie durch weiße fließende Schleier sah er noch Reckas Haupt, ihr wehendes Rothaar und die winkenden Arme, hörte aus allem Donner und Toben noch ihren jauchzenden Ruf: „Ich liebe Dich!“ ... dann brach es vor ihm nieder mit schwarzer Nacht.

Die stürzenden Massen erfüllten die ganze Breite der Schlucht, und von allen Wänden lösten sich neue Lawinen. – –

Hoch über dem Albenthal, dessen Hütte Herr Waze und seine Söhne, der Richtmann und die Knechte in jagender Flucht zu erreichen suchten, geriet der ganze Berghang in rinnende Bewegung. Aus dem aufdampfenden Schneegewölk flogen braune Punkte hervor, erst wie springende Kiesel erscheinend, doch schon im nächsten Augenblick als mächtige Felsblöcke; in weitem Bogen wurden sie über steile Wände hinausgeworfen oder liefen wie kreisende Scheiben mit Windesschnelle über die Gehänge nieder, um jählings in tausend Splitter auseinanderzufahren.

Die Kräfte der Fliehenden gingen zu Ende, und schon rollte die sich dunkel färbende Lawinenwolke gegen das Albenthal. Knatternd fiel ein Regen von Steinen über den Grat hernieder, und lauter noch als das Kreischen der Angst erhob sich das Wehgeschrei der vom Steinschlag Getroffenen. Wen nicht eine springende Scholle zu Boden warf, der stürzte, da ihm der beißende Staub, aus Schnee und Sand gemischt, die Augen fast erblinden machte. Stöhnend rafften die Gestürzten sich wieder auf und suchten Rettung in neuer Flucht. Keiner hörte das Wehgeschrei, welches neben oder hinter ihm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_462.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2021)