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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

sich. Aber der Partner scheint zu fehlen, sie scheinen mit Geistern zu kämpfen, die in der leeren Luft hausen. Doch in einem Winkel, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, sitzt der Meister, der, ohne auf irgend ein Brett zu sehen, alle diese Partien spielt und in der Regel die große Mehrzahl derselben gewinnt.

Die Bretter sind numeriert, und von dem einen zum andern gehend, sagt irgend ein Mitglied des Klubs die Züge auf denselben an, worauf der Blindlingsspieler den Gegenzug nach kürzerem oder längerem Besinnen angiebt. Es ist klar, daß diese Art zu spielen einen großen geistigen Kraftaufwand verlangt, eine gesammelte Thätigkeit der inneren Anschauung; dem Blindlingsspieler müssen alle diese Partiestellungen in jedem Augenblick gegenwärtig sein und er darf sich durch den kaleidoskopischen Wechsel derselben nie verblüffen lassen. Ein hoher Grad von Geistesgegenwart und nicht zu verwirrender Ruhe und Klarheit gehört dazu, um alle diese Spiele in ihrem jedesmaligen Stand, im bisherigen Entwicklungsgang und in den sich darbietenden Möglichkeiten der Weiterführung zu beherrschen – man bedenke nur, wie manche Fehler und Mißgriffe, ja Zerstreutheiten sich selbst Meister zu Schulden kommen lassen, welche das Schachbrett vor Augen haben und einem einzigen Gegner gegenübersitzen! Von vielen Blindlingsspielern ist bekannt, daß sie sich am Tage der Vorstellung geistig „trainieren“, um am Abend recht sattelfest zu sein. Ein vorzüglicher Blindlingsspieler war der Deutsche Louis Paulsen, der in Amerika mit seiner Kunst Triumphe feierte, und auch Zukertort hat darin oft seine siegreiche Meisterschaft bewiesen. Es ist natürlich, daß die Gegner des Blindlingsspielers nicht gleichstehende erste Schachhelden sein können, eine Regel, die auch bei einer andern Kraftleistung der Schachmeister gilt, bei dem Simultanspiel, welches darin besteht, daß ein einzelner gleichzeitig eine Mehrzahl von Partien, aber sehenden Auges spielt. Diese Zahl kann eine weit größere sein als beim Blindlingsspiel, hier werden höchstens zwölf, dort in der Regel mehr als zwanzig Partien in Betracht kommen. Der Geistesgegenwart bedarf auch der Simultanspieler; doch ihm genügt meistens der rasche Blick, mit dem er sich den Charakter der Partie und der Stellung stets frisch vergegenwärtigt. Der Simultanspieler geht von einer Partie zur andern und macht die Gegenzüge selbst.

Sehr verbreitet sind gegenwärtig auch die Korrespondenzpartien, welche zwischen verschiedenen Klubs, bisweilen auch zwischen einzelnen Meistern gespielt werden. Hier übermittelt die Post die geschehenen Züge und die Bedenkzeit beläuft sich auf mehrere Tage. Eine größere Vertiefung des Spiels als bei den Meisterturnieren, eine genauere Durchprüfung aller Möglichkeiten wird durch die längere Zeitdauer ermöglicht. In der Regel wählen die Klubs Spielkomitees, die sich gegenübertreten, und wenn in den Klubs selbst bisweilen sogenannte „Konsultationspartien“ veranstaltet werden, bei denen auf beiden Seiten sich mehrere Spieler über die Züge beraten, so haben die Korrespondenzpartien denselben Charakter, nur daß bei ihnen die Einheit von Zeit und Ort nicht gewahrt ist und die Post in Mitleidenschaft gezogen werden muß.

Neben der praktischen Partie, welche vorzugsweise in den Klubs und bei den Kongressen gepflegt wird, spielt das Problem im Schachleben der Gegenwart eine große Rolle, eine viel größere als früher. In der Form des Problems wird das edle Schach insbesondere von den illustrierten Zeitschriften und so auch von der „Gartenlaube“ gepflegt. Diese Schachaufgaben zu lösen, ist eine willkommene Beschäftigung für ländliche Einsamkeit, für müßige Stunden, für die stillen Denker, die sich vom Lärm der Welt zurückgezogen haben, es giebt aber auch geübte Leser, welche den gordischen Knoten der Probleme sehr rasch zu zerhauen wissen. Das Problem hat man mit Recht die Poesie des Schachspiels genannt; hier herrscht die freie geniale Erfindung, das Ueberraschende, Blendende, während die Partien sich längere Zeit in einem durch die Theorie vorgezeichneten Gang bewegen und auch später das Streben nach strenger Regel jedes kühnere, irgendwie zweifelhafte Wagnis ausschließt. Bei den großen Meisterturnieren wird die Spielweise um so leichter ins Nüchterne verfallen, als der Hauptzweck, den Preis zu erlangen, ebenso durch kleine, allmählich eingeheimste Vorteile wie durch glänzendes Spiel erreicht werden kann. In der That findet man, wenn man die Partien der Meisterturniere durchspielt, recht viel dürre Heide, während sich geniale Wendungen häufig in den Spielen einzelner junger Kräfte zeigen, die man aber trotz mancher glänzend gespielter Partien nicht in den Reihen der ersten Preisträger trifft. Um so mehr tritt das Problem in sein Recht, das Epigramm des Schachspiels. Es ist ein künstlich zusammengestelltes Endspiel, das in einer bestimmten Zahl von Zügen, zwei, drei, vier, selten mehr, zum Abschluß, zum „Matt“ führen soll. Es ist natürlich, daß diese Züge nicht auf der Hand liegen dürfen, sondern daß der Scharfsinn herausgefordert wird, sie herauszufinden. Je nach den Zügen des Gegners muß auch der Anziehende verschiedene Züge machen, die aber den Abschluß in der von Hause aus bestimmten Zahl erreichen müssen. Das macht den Reichtum der sogenannten Varianten aus, je mannigfacher und überraschender sie sind, desto mehr glänzt das Genie des Erfinders. Durch labyrinthische Verschlingungen, die ein kühner Zug entwirrt, durch gewagtes Opfern von Figuren üben viele Probleme auf die Phantasie der Schachfreunde eine ebenso anregende wie befriedigende Wirkung aus. Dem Wesen der Zeit gemäß findet auch auf dem Gebiete des Problems großer Wettkampf und eifrige Preisjagd statt. Die Problemturniere sind noch häufiger als die Meisterturniere, mit denen sie in der Regel verbunden werden. Ueber die Preisverteilung entscheiden mehrere Preisrichter, die durch Kenntnis des Problemwesens oder auch als Schöpfer auf diesem Gebiete ihre Berechtigung dazu erwiesen haben. Die Problemkunst hat nicht nur ihre Regeln, sondern auch ihre verschiedenen Richtungen, so daß hier bei den Preisverteilungen die Sicherheit fehlt, mit welcher bei gespielten Partien die Preise an die unzweifelhaften Gewinner vergeben werden, aus diesem Grunde können auch die Urteile höchst unparteiischer Preisrichter von der einen oder andern Seite angefochten werden. Bei den Schachkongressen findet in der Regel auch ein kleines Lösungsturnier statt – den Preis erhält dabei derjenige, welcher ein zu diesem Zweck ausgewähltes Problem am raschesten mit vollständiger Angabe aller Varianten löst.

Das Schachleben steht, wie wir sehen, in voller Blüte, überall Klubs und Turniere, und die Probleme wuchern in allen Zeitungsspalten. Die Namen berühmter Schachspieler liest man fast so oft in den Blättern wie die Namen berühmter Schauspieler, und allerlei Auswüchse, welche mit dem Streben nach Tagesruhm verbunden sind, lassen sich von den einen so wenig fernhalten wie von den anderen. Sie hängen auch damit zusammen, daß das Schachspiel nicht bloß ein Sport, sondern auch ein Erwerbszweig geworden ist – weniger in Deutschland, wo die älteren Schachmeister auch in bürgerlichen Stellungen ihre Tüchtigkeit bewährten, als in England und Amerika, wo es schon seit längerer Zeit Kongreßreisende giebt, die bald auf der einen, bald auf der andern Halbkugel auftauchen, wo nur irgend ein Preis in Sicht ist, und die, wenn sie keine Preise gewinnen, bisweilen in großer Verlegenheit sind, wie sie sich wieder nach Hause finden sollen.

Durch den bisherigen Charakter unserer Schachklubs sind die Frauen ausgeschlossen, keineswegs durch den Charakter des Spiels und ihre eigene Fähigkeit für dasselbe. Die jetzige Frauenbewegung wird allmählich auch das „Königliche Spiel“ in ihre Kreise ziehen. Namhafte Problemdichterinnen giebt es in England, aber auch in Deutschland, und es haben auch schon Frauenschachturniere in Berlin und London stattgefunden. Die reiche Phantasie, welche sich in den Werken der schriftstellernden Frauen kundthut, kann auch im Schachspiel zur Geltung kommen, und die kleinen Listen der versteckten Pläne und maskierten Züge darf man den Frauen im Schachspiel wohl zutrauen.

Fragen wir nach den Namen der berühmten Schachmeister der neueren Zeit, so haben so viele hier und dort Erfolge errungen, erste Preise gewonnen und Zeitungsstaub aufgewirbelt, daß nur ein langes Namenregister allen diesen Preisträgern gerecht werden könnte. Hier gilt es, einige Namen hervorzuheben, deren Ruf unbestreitbar ist. Am hellsten leuchtet das Doppelgestirn Anderssen–Morphy, und die geniale Spielweise dieser beiden Meister ist bis auf den heutigen Tag kaum übertroffen worden. Adolf Anderssen (1818 bis 1879), wie schon erwähnt, Oberlehrer in Breslau, unterlag 1858 im Wettkampf gegen den jungen amerikanischen Juristen Morphy, in einer Weise, die seinen Weltruhm gefährdete, doch stellte er denselben durch zwei gewonnene erste Preise in großen Meisterturnieren wieder her. Paul Morphy (1837 bis 1884), in New Orleans geboren, glich einem glänzenden Meteor: so rasch, wie es emporstieg, so rasch erlosch es auch wieder. Der zwanzigjährige Jüngling errang beim Kongreß zu New York den ersten Preis, und zwar ließ er alle Mitspieler weit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_439.jpg&oldid=- (Version vom 27.6.2023)