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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

bestürzt rief: „Du bist nicht wohl?“ Indem er sie stützte, strich er mit der Rechten leise über ihren Scheitel.

„Es ist nichts –“ stammelte Johanna.

„Zu überraschen taugt nicht, wie ich merke,“ meinte Armstrong lächelnd. „Doch wußte ich bis heute nicht, daß Frau Hanna Nerven hat. – Guten Tag, Herr Ruhdorf!“ Er folgte dem jungen Mann, den er durch ein Kopfnicken schon begrüßt hatte, zur Schwelle, wohin dieser sich zurückzog, und schüttelte kräftig dessen schlaffe Hand. „Wir sprechen uns heute noch, ich habe Ihnen viel zu sagen, mein veränderter Kurs geht Sie ganz besonders an.“

Indem Ruhdorfs Finger schon auf dem Thürgriff lagen, kreuzten seine Augen die Johannas. „Er weiß nichts! Was nun?“ stand darin zu lesen.

Armstrong drang in seine Frau mit Fragen über ihre Gesundheit. Sein liebreicher Blick erkannte rasch, daß anderes als augenblickliche Erregung diese tiefen Linien um Mund und Augen gegraben haben mußte. Sie lenkte ab, sprach von der Krankheit der Tante, stellte hundert abgerissene Fragen an ihn, ihre Wimpern flogen, die Farbe ihrer Wangen ging und kam, sie beunruhigte Armstrong sehr. Daß der Fieberzustand der von ihr Gepflegten auf sie selbst übergegangen sei, schien ihm außer Zweifel.

Etwa nach einer Stunde begab er sich in das Comptoir, berief Ruhdorf in sein Arbeitszimmer und ließ sich alles Geschäftliche von Belang vortragen. „Und nun zu Persönlichem,“ schloß er mit freundlicher Ruhe, „Sie entsinnen sich unseres Gespräches am Abend vor meiner Abreise?“

Ernst behielt kaum die unumgängliche Fassung. War der Brief dennoch in Armstrongs Händen? Aber dann vermochte dieser Uebermenschliches, um in solchem Ton darüber zu sprechen!

„Ich äußerte die Absicht, Ihnen nach meiner Rückkehr größere Selbständigkeit und entsprechenden Gewinnanteil zu sichern,“ fuhr er fort. „Bestimmteres wäre damals verfrüht gewesen, ich wünschte, die Verhältnisse persönlich zu prüfen und einzuleiten. Das ist geschehen; ich komme von B., wo ich eine Filiale zu gründen und deren Leitung Ihnen zu übertragen beabsichtige. Die Bedingungen werden Sie, wie ich hoffe, zufriedenstellen. Einverstanden, Herr Ruhdorf? Ich freue mich, Ihnen, der das Wohl meines Hauses stets und in jüngster Zeit mit besonderem Eifer wahrgenommen hat, zu beweisen, daß mir Ihr Wohl gleichfalls nahe liegt.“

Rnhdorf war sehr betreten. Es fehlte ihm nicht an dem Selbstgefühl, daß er für seinen Chef eine tüchtige Stütze sei, in diesem Sinne kam ihm jede Berücksichtigung zu. Die Herzlichkeit aber, mit der Armstrong seine Mitteilung vorbrachte, dessen sicheres Zutrauen benahmen ihm den Atem. Sein erster Gedanke war volle sofortige Aussprache. Indessen – durfte er Johanna vorgreifen, sie in die Lage versetzen, gleichsam als bereits Ueberführte ihre schwere Beichte abzulegen? Er war ihr schuldig, zu schweigen, bis er von ihr benachrichtigt war.

Beklommen dankte er seinem Chef für die gute Gesinnung, fügte dann nach kurzem Zögern bei, daß auch er Mitteilungen zu machen habe, über die er sich bald näher äußern würde, durch die sich aber die geäußerten Absichten verschieben dürften, da persönliche Angelegenheiten ihn nötigten, sich in nächster Zeit Urlaub für eine Reise nach Deutschland zu erbitten.

Armstrong, der die unverkennbare Befangenheit des jungen Mannes auf diese Aeußerung zurückführte, entgegnete, daß sich im gegebenen Falle Privates und Geschäftliches ganz wohl vereinigen ließe, da er ohnehin beabsichtige, ihn in der besprochenen Angelegenheit nach Deutschland und Frankreich zu senden, und der Plan erst nach seiner Rückkehr wirklich in Kraft treten solle. „Rüsten Sie also immerhin zu baldigem Aufbruch. Morgen ist Ruhetag, Montag sprechen wir weiter.“




Armstrongs Besorgnis wegen des üblen Aussehens seiner Frau veranlaßte ihn, trotz ihrer Abwehr, noch denselben Abend nach dem Arzt zu senden, dessen Verordnung sich auf das Gebot völliger Ruhe beschränkte. Am folgenden Morgen erschien sie zur gewohnten Zeit, um den Thee zu bereiten. Ihr Mann begrüßte sie mit der beruhigten Versicherung, daß sie heute, wenn auch noch bleich und angegriffen, doch wieder sich selbst gleichsehe. Es war Sonntag, das Geschäft geschlossen. Er freute sich der sicheren Stille des eigenen Hauses. „Dieser Tag soll uns ein Fest sein!“ sagte er froh zu Johanna. „Wie oft habe ich mich nach solcher Ruhe gesehnt in der langen unerquicklichen Zeit. Heute wollen wir jede Stunde zusammen verleben, vor Besuchen die Thüre schließen, alles, was stört, soll draußen bleiben.“

Sie erhob ihre Augen. Ganz seltsam kam es ihr vor, daß sie ihn anzusehen vermochte, als läge kein Abgrund zwischen ihm und ihr. Ein Fest! Das freilich klang schrill in ihr Bewußtsein. Eins war ihr aber unumstößlich klar: Ruhe sollte der Ahnungslose genießen diesen einen letzten Tag. Morgen mußte gesprochen werden, heute wollte sie ihm und sich gönnen, noch einmal in Frieden beisammen zu sein. Ja, in Frieden! Denn – ihr selbst unbegreiflich – ihr war wohl in seiner Nähe, in diesem vertrauten Zusammensein. Mit jeder Stunde des still vorrückenden Tages fühlte sie sich mehr und mehr von dem alten Gefühl der Geborgenheit überschattet wie unter Zweigen eines Baumes nach sengender Glut. Er ging mit ihr um, wie man es mit Kranken oder Leidenden pflegt, schonend, in liebreich heiterer Art. Sie verstand sehr wohl, daß er sie wirklich für körperlich leidend hielt, daß auch nicht einer seiner Gedanken die Wahrheit erriet, und doch war ihr, als läge ihre Seele ihm offen und er habe bereits verziehen. Ein traumhafter Zustand, der ihr namenlos wohl that nach aller Qual der vorausgegangenen Tage. Viel Gemeinsames wurde besprochen, was Haus und Dienerschaft, Hilfsbedürftige und Zugehörige betraf, er fragte nach allem, machte Vorschläge, plante Einrichtungen, die recht nach Johannas Sinne waren. Seine schöne Menschenfreundlichkeit durchleuchtete alles, sprach auch aus den Berichten über die im Süden verlebte Zeit, die nicht selten Strenge geboten hatte. Photographien, Aufzeichnungen, die er mitgebracht, interessierten Johanna durch die Erläuterungen, die er daran knüpfte. So ging der Tag hin, ein echter Sonntag, still und doch bewegt. Bald nach dem spät eingenommenen Mittagsmahl bat Armstrong seine Frau, nun zur Ruhe zu gehen, Johanna zögerte. Ihr war, als müsse diesem Tage noch eine, eine Stunde abgewonnen werden, schon war in ihr das Bewußtsein wach, daß es ihr letzter friedlicher Tag sei auf lange, lange hinaus, vielleicht bis zum Ende. Doch fügte sie sich und ging in ihr Schlafzimmer.

Das erste, was ihr dort in die Augen fiel, war ein auf dem Seitentischchen liegendes Paket.

„Bücher,“ sagte ihr Mädchen, „Herr Ruhdorf hat sie geschickt, weil die Herrschaft ungestört bleiben wollte, habe ich das Päckchen hierher gelegt.“

Johanna fühlte, wie ihr kalt wurde. Sie entließ die Dienerin und barg ihr Gesicht zwischen den Händen. Wie ein Gespenst stieg vor ihr auf, was war. Erst nach langer Zeit entschloß sie sich, das Siegel, das die Schnur des Päckchens hielt, zu lösen. Das Erwartete lag zwischen zwei Büchern, nur wenige Zeilen. „Ich vertraue, daß Sie diesen Zustand beenden. Kein zweites Zusammentreffen könnte ich bestehen.“

Sie nickte vor sich hin. Ja, morgen mußte das geschehen. Mechanisch kleidete sie sich aus und legte sich zur Ruhe, ohne doch Ruhe zu finden. Mit weit offenen Augen blickte sie in das Dämmer, das im matten Schein der dicht verhangenen Nachtlampe dem Umriß der Gegenstände um sie her etwas Schwankendes gab. Von Zeit wußte sie nichts, also auch nicht die Stunde, in der sie Armstrongs vorsichtigen Schritt vernahm, als er sein Schlafzimmer betrat, dieses war von dem ihrigen durch das Kabinett getrennt, in dem sie vor acht Tagen an ihn geschrieben hatte. Sie erschrak, denn sie vernahm, daß er herüberkam. Mit festgeschlossenen Augen hielt sie den Atem an, durch die Lider glaubte sie zu spüren, daß er vor ihrem Lager stand und sie betrachtete, gleich darauf entfernte sein leiser Schritt sich wieder. Fester als je stand ihr fest, daß morgen gesprochen werden müsse.

Im Tagesgrauen schlief Johanna endlich ein und erwachte erst, als es bereits völlig hell war. Sie kleidete sich, gegen ihre Gewohnheit, für das Frühstück mit fliegender Hast vollständig an wie für einen Ausgang. Als sie das Eßzimmer betrat, saß Armstrong bereits am Theetische.

„Gestiefelt und gespornt?“ scherzte er. „Was hast Du vor?“

„Nichts!“ Sie legte ihm mit bebender Hand Zucker in die Schale.

„Das ist mir lieb, denn ich wollte Dir vorschlagen, gleich nach dem Frühstück mit mir nach der Insel zu fahren. Nach dem, was Du sagtest, sind bauliche Veränderungen an der Villa erforderlich, ich möchte nachsehen und vielleicht noch arbeiten lassen, ehe Frost eintritt. Ist es Dir recht?“

„Gewiß – fahren wir!“ sagte sie zerstreut, sie dachte daran,

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