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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

inne, dann, in stillerem Tone: „Ja, ich habe daheim ein Mädchen liebgewonnen, das auch mir gut ist, dessen Hand zu erhalten ich aber keine Aussicht hatte. Sie weiß, daß ich ging, um neue Möglichkeiten zu schaffen; verlobt sind wir nicht, weder öffentlich, noch geheim. Meine Lage war und ist viel zu ungewiß, als daß ich hätte verantworten können, jemand zu binden. Ob die Zuneigung eines sehr jungen Mädchens jahrelang standhalten wird, ist um so unsicherer, als keinerlei Verbindung zwischen uns besteht und ihre Eltern ganz andere Pläne hegen. Sie sehen also, wie wenig Recht ich auf den Titel eines Bräutigams habe, und wenn ich damals nicht widersprach, so geschah es nur, um von dem Wort kein Aufheben zu machen.“ Wieder lächelte er; sein kühngeschnittenes Profil zeichnete sich klar von der golddurchfluteten Luft ab.

„Mehr soll ich also nicht erfahren?“

„Eine Thekla ist sie nicht,“ entgegnete er heiter.

„Sie besitzen eine Photographie?“

Ernst sah die junge Frau an. Ihr angenehmes Gesicht war leicht gerötet, die tiefen Augen blickten ihm erwartungsvoll entgegen. Er nahm seine Brieftasche hervor und gab ihr ein in deren Seitenfach verwahrtes Bild. Johanna blieb minutenlang in Betrachtung des entzückenden Köpfchens versenkt. „Welche Lebenspracht!“ rief sie dann. „Ich wünsche Ihnen Glück, Herr Ruhdorf.“

„Zu früh,“ sagte er gedämpft. Seine dunkeln Augen hafteten mit langem Blick auf ihrem noch immer zu dem Bildchen vorgeneigten Gesicht. Als sie ihm die Photographie zurückgegeben hatte, stand er schnell auf und verabschiedete sich.

Johanna nahm ihren Sitz wieder ein. Lässig ruhten ihre Hände auf dem Schoße. Woran sie dachte, worüber sie träumte, hätte sie später nicht zu sagen gewußt. Als die Stimme der Tante sie aus diesem seelischen Halbschlummer weckte, war der letzte Tagesschein bereits verglommen. Wie von ferne her drang die verdrießliche Klage der alten Dame an ihr Ohr; diese beschwerte sich, daß Herr Ruhdorf fortgegangen sei, ohne sich bei ihr zu verabschieden, viel zu früh, da sie darauf gerechnet habe, noch eine Partie Schach mit ihm zu spielen. Johanna strich ihre Haare zurück und erklärte sich zum Partner der Tante bereit. Doch zögerte sie noch minutenlang, ehe sie sich erhob. Ihre Augen hingen wie gebannt an der graublauen Fläche des Meeres, auf dessen leicht bewegten Wogenkämmen schon das silberne Licht des Mondes glänzte. Zahllose Leuchtkäfer durchschwirrten die Büsche des Gartens, tauchten auf wie geisterhafte Funken, schwanden wieder, um andere Stellen zu durchblitzen. Funkelnde geheimnisvolle Schönheit überall, ein Flüstern, Klagen, ein kaum vernehmliches Schwirren – die Stimmen der Nacht zwischen dem Laub, auf den Wogen.

„Bitte, komm!“ rief die Tante so ärgerlich, als ihre Gutmütigkeit es erlaubte. Johanna erhob sich und wendete den Kopf. Das Empfangzimmer war hell erleuchtet. Die junge Frau ließ, wie ermüdet, beide Arme schlaff an sich niedersinken, that einige Schritte der Thüre zu, kehrte wieder um, nahm den auf dem Verandatisch liegenden Band von Heyse und ging dann ganz langsam in das erhellte Gemach, wo sie schweigend vor dem Schachtischchen Platz nahm, an dem die sehnlich harrende Spielerin bereits saß.




Schon brausten die ersten Herbstwinde über das Meer und noch war Armstrong nicht zurückgekehrt. Doch war sein Aufbruch von Charleston für die nächste Zeit angekündigt. Johanna hatte ihren Aufenthalt in der wohlgeschützten Villa über die gewohnte Zeit hinaus ausgedehnt; sie wünschte, erst kurz vor Heimkehr ihres Mannes an das Stadthaus überzusiedeln, gegen den Rat des zuweilen vorsprechenden Hausarztes, der sie nervös und ihr Aussehen nicht befriedigend fand. Doch versicherte sie stets, ganz wohl zu sein.

Das Leben der beiden Frauen hatte sich noch einförmiger gestaltet, seit auch Ernst Ruhdorf ein seltener Gast geworden war. Viel Arbeit, die noch vor Rückkehr des Chefs zu erledigen sei, mußte dafür als Grund gelten. Ruhdorf kam fast nur dann hinaus, wenn er eine an ihn gelangte Mitteilung Armstrongs zu berichten hatte. Dies war heute, am ersten Sonntag des Oktober, der Fall. Weisungen für das Geschäft, mit Beischluß eines Briefes an Johanna, dessen Inhalt Armstrongs Ankunft bis Mitte Oktober hinausschob, waren am Vorabend eingetroffen. Johanna wurde verstimmt und wortkarg, nachdem sie das gelesen. Als die Tante Ruhdorf aufforderte, doch heute endlich wieder zu Tische hier zu bleiben, widersprach sie nicht, fügte aber kein eigenes Wort der Zurede bei, und noch stand der junge Mann unschlüssig, ob er bleiben oder gehen solle, als Besuch gemeldet wurde.

Frau Anny kam, um sich zu verabschieden, als eine der letzten, die dem Sommeraufenthalt Lebewohl sagten. Graziös, in geschmackvoller Herbsttoilette, von feinem Duft umgeben, glitt sie herein, ihr pikantes Gesicht war ganz Lächeln und Liebenswürdigkeit, und gleich nach der ersten Begrüßung lud sie sich für den Mittag zu Gast, um, wie sie lachend äußerte, dem Staub des Aufbruchs im eigenen Hause zu entrinnen. Johanna nahm sich zusammen, ihr entging nicht, daß die Augen der Dame vor Uebermut blitzten, sie wußte genau, daß der vorgebrachte Grund dieses Ueberfalles völlig aus der Luft gegriffen sei, konnte sich jedoch nicht vorstellen, welche Laune dies Weltkind veranlaßt haben mochte, heute in das stille Haus einzudringen, das sie seit Monaten nicht mehr betreten hatte. Eines Dritten Anwesenheit war Johanna nun sehr erwünscht, sie warf ein Wort hin, das Ruhdorf als Tischgast bezeichnete, und gab sich Mühe, ihre Unlust über die Sache unter artigen Formen zu verstecken. Frau Anny machte ihr das nicht schwer, plauderte in ihrer gewandten, leicht spöttelnden Weise über tausend Dinge und begann mit Ernst Ruhdorf, der bei früheren Begegnungen im Stadthause von ihr hochmütig oder gleichgültig übersehen worden war, ganz unverhohlen zu kokettieren. Er ging schlagfertig und geistreich auf ihre Plänkeleien ein, zum sichtlichen Ergötzen der Tante, die froh war, eine Unterbrechung des Alltags zu erleben. So vergingen ein paar Stunden ganz angeregt, niemand schien zu bemerken, wie schweigsam die Hausfrau geworden war.

Als Frau Anny sich nach dem auf der Veranda eingenommenen Kaffee verabschiedete, ließ sie einen ihrer ausdrucksvollen Blicke zu dem jungen Mann hinüberfliegen und lud ihn ein, sie in der Stadt zu besuchen. Johanna gab der Dame, wie sie bei jedem Gast pflegte, das Geleite durch den Garten. Auf der zweiten Terrasse angelangt, die nach dem Alleeweg hinabführte, blieb sie stehen und wünschte der schönen Frau gute Heimfahrt.

„Und Sie?“ fragte diese. „Mir scheint, Sie wollen als letzte Insulanerin allen Stürmen trotzen. Je nun, unter so gutem Schutz, wie ich Sie heute traf, läßt sich schon etwas wagen. Seit ich mir Ihren Ritter, der auf dem Wege hierher so oft an meinem Landhaus vorbeikam, etwas näher angesehen habe, begreife ich vollkommen Ihre Vorliebe für Einsamkeit zu – Dreien.“

Das wurde, mit anmutiger Handbewegung nach der Villa zu, leicht hingeworfen, ein bohrender, sehr beredter Blick, der dem flüchtigen Wort eine ganz andere Bedeutung gab, trieb aber Johanna das Blut bis in die Schläfen.

„Sie, Frau Anny, begreifen vielleicht manches, worauf ich mich nicht verstehe,“ erwiderte sie kalt, verbeugte sich sehr förmlich und blickte mit weitgeöffneten Augen der Dame nach, die lachend die Schultern hob und bald aus ihrem Gesichtskreis verschwand.

Johanna war es zu Mut, als hätte ein Schlag sie in das Gesicht getroffen. Mechanisch wendete sie sich und ging dem Hause zu. Bei der ersten Terrasse angelangt, ließ sie sich plötzlich wie kraftlos auf einen der Sitze fallen, die ein großer Essigbaum beschattete, schlug beide Hände vor das brennende Gesicht und schluchzte unaufhaltsam. Wie lange sie so fassungslos gesessen, wußte sie nicht, als sie mit einem Male ihre Hände ergriffen und sanft niedergezogen fühlte. Ernst Ruhdorfs Augen leuchteten sie an, er zog die zuckenden Hände heftig gegen seine Brust und sagte leis und fest: „Jetzt, Johanna, wissen auch Sie, daß wir uns lieben.“

„Nein, nein!“ wollte sie rufen, eine berauschende, nie gekannte Wonne erstickte aber das Wort in ihrer Kehle. Dieser flammende Blick tauchte tief, so tief in ihre Augen, ihre Seele – ohne Atem fast lauschte sie der Stimme, die leise Worte sprach, vor denen alles verschwand, was je zuvor in ihr gelebt hatte.

„Sie wissen es, Johanna – Sie wußten es längst! Was hat es geholfen, daß ich Sie mied? Nur immer mächtiger wuchs die Ueberzeugung, daß wir zueinander gehören. Sie müssen doch auch bei jedem Wiedersehen gefühlt haben, wie das wuchs und wuchs – und jetzt, Johanna, haben Sie sich das eingestanden. Und das ist gut! Denn, frei heraus, ich kam heute mit dem Entschluß, zu sprechen, dem elenden Zustande, der uns zu Grunde richtet, ein Ende zu machen –“

„Sie wollen fort?“ stammelte Johanna.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_406.jpg&oldid=- (Version vom 19.6.2023)