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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„So lange wir hier am Tisch sitzen –“ sagte Opitz, der eigentlich nicht recht wußte, was er sagen sollte.

„Ich kann mir ja ungefähr denken,“ fiel sie ihm erregt ins Wort, „daß Sie Ihre Gedanken anderswo gehabt haben. Aber daß eine Mutter so ganz und gar ihr Kind außer acht läßt ...“

Opitz war schon fortgeeilt. Er öffnete die Stallthür und sah am Brunnen nach. Vergeblich. Als er zurückkam, gingen die Wogen schon hoch. Die Frau Sekretär lief hin und her. „Aber wo ist Lieschen nur? Lieschen! Lieschen!“

„Aengstige Dich doch nicht,“ bat Ida.

„Nicht ängstigen! Mich wundert, daß Du Dich nicht ängstigst. So ein unmündiges Kind! Lieschen ist ja doch nirgends zu sehen, und auf meinen Ruf antwortet sie nicht. Lieschen!“

Opitz erbot sich, ein Stück in den Wald hineinzugehen und nach ihr zu suchen. Die Frau Sekretär wollte wissen, daß er eine Meile lang und breit sei. „Wenn das Kind sich verlaufen hat, weiß man ja gar nicht, in welcher Richtung! Ach das arme Dingelchen!“

„Aber Liese wird sich doch nicht so weit entfernen,“ meinte Frau Schöneberg. „Gewiß pflückt sie mit Martha Blumen.“

Frau Streckebein hörte nur das letzte Wort. „Blumen! Und ein paar Minuten von hier ist ein Sumpf, wie mir die Wirtin erzählt hat. Wer da hineingerät, ist verloren. Und weiter der Schwarze See, ganz auf Moorgrund! An Sümpfen wachsen die schönsten Blumen, das weiß jedes Kind – die Vergißmeinnicht stehen immer halb im Wasser. Wenn man mit den Füßen einsinkt, kann man nicht mehr heraus. Sie mag auch beim Bücken mit dem Kopf …“ Ein kalter Schauer überlief sie. „O, mein Himmel!“

„Das sind doch aber alles bloß Vermutungen,“ meinte Schöneberg. „Und wenn Martha mit ist –“

„Wenn!“

„Wo liegt denn der schreckliche Sumpf?“ fragte Rosine. „Jetzt im Sommer ist er gewiß auch ausgetrocknet.“

„Solche Waldsümpfe trocknen niemals aus,“ versicherte die Frau Sekretär. „Es bildet sich aber eine Moosdecke darüber, die man für ganz vertrausam hält. Und was hat so ein Würmchen für Erfahrung! Wenn sie eingesunken ist und Martha hat ihr helfen wollen, können sie beide … o, Herr Opitz, laufen Sie und schreien Sie fortwährend! Ich möchte ja selbst, aber mir zittern die Knie.“ Sie ließ sich ganz aufgelöst auf die Bank nieder. „Ich weiß gar nicht mehr, wo ich meine Gedanken habe.“

Opitz wollte sich nur noch bei der Wirtin genauer nach der Richtung erkundigen. Das that er und eilte dann in den Wald. Ida, die nun auch unruhig geworden war, suchte das Gebüsch ab.

„Neulich war so ein Fall mitgeteilt,“ wimmerte Frau Streckebein, „wo eine Schule spazieren geht und ein Mädchen bleibt zurück und pflückt Blumen am Teich, und wie sich die andern umsehen, ist es verschwunden.“

Schöneberg schlug mit der Hand in die Luft. „In der nächsten Nummer stand ja, daß kein Wort davon wahr gewesen sei!“

„Aber es hätte doch können …“ Plötzlich sprang die alte Dame auf und stieß einen Schrei aus.

„Na?“ knurrte Schöneberg. „Man wird ganz nervös.“

„Der Zigeuner! Es sind Zigeuner im Walde. Sie haben das Kind gestohlen.“

„Aber ich bitte Sie –“

„Ist das etwa nicht möglich? Man liest alle Tage in den Zeitungen von gestohlenen Kindern. Die Zigeuner verstecken sie, bis sie weit fort sind, und richten sie dann zu Kunststücken und zum Betteln ab. Der Kerl, der sich erst hier herumtrieb, sah ganz so aus. Gewiß hat er das hübsche Kind bemerkt und in den Wald gelockt. Mein Lieschen auf dem Seil – ach Gott, ach Gott!“ Ida wollte etwas einwenden aber ihre Mutter fuhr sie gleich an: „Du rede nur gar nicht! Wenn ich so wenig auf Dich aufgepaßt hätte, als mir mein letzter seliger Mann einen Antrag machte –“

„Mama!“

„Man muß sogleich zur Polizei. Sie soll den Wald absperren, das Zigeunervolk nicht herauslassen. Wenn unser Kutscher sich aufs Pferd setzt und nachreitet, holt er vielleicht die Räuber noch ein. Ganz nüchtern freilich war er nicht mehr.“

Inzwischen war die Wirtin aus dem Hause gekommen und herangetreten. Das Lamentieren der alten Dame machte ihr sichtlich Spaß. „Aber meine Herrschaften,“ sagte sie nun lachend, „machen Sie sich doch des Kindes wegen nur gar keine bange Gedanken. Als ich das Geschirr abräumte, sah ich das kleine Fräulein mit dem großen Fräulein dort in den Wald gehen.“

„Na, da haben wir’s,“ rief Schöneberg. „Vielleicht ist unsre Martha auch von den Zigeunern gestohlen.“

Frau Streckebein fühlte sich ein klein wenig erleichtert. „Spotten Sie nur,“ sagte sie, sich mit dem Tuch Kühlung zufächelnd. „Man kann noch nicht wissen –“

„Wo Martha sich mit dem Kinde eigentlich herumtreibt,“ fiel Frau Schöneberg ein. „Um Erlaubnis, fortgehen zu dürfen, hat sie mich nicht gebeten.“

Die Wirtin kicherte. „I, wo wird sie auch! Der junge Herr, der mit dem Zweirad angekommen ist, hat ihr ja so lange gewinkt, bis sie ihm auf dem Wege dort nachgegangen ist.“

„Was, was? Herr Vanhusen?“

„Ich weiß nicht, wie er heißt.“

„Aber er empfahl sich doch längst,“ sagte Schöneberg ganz verblüfft.

„Unerhört!“ rief seine Frau. „Ist das Mädel toll? Mit einem wildfremden Menschen!“

Schöneberg richtete sich auf. „Glaubst Du mir nun, daß der anbandelt, Rosine?“

Er imponierte ihr aber gar nicht. „Das kommt von Deinem unzeitigen Schlafen her,“ schalt sie. „Wenn Du hübsch aufgepaßt hättest –“

Er duckte den Kopf. „Nun geht’s gegen mich los!“

Frau Streckebein trocknete den Schweiß von der Stirn. „Mir ist doch ganz wohl, daß wenigstens ein Mann dabei war,“ sagte sie.

Nun war aber Frau Schöneberg ganz aufgeregt. „Du mußt ihnen sogleich nachgehen,“ rief sie ihrem Mann zu, „so etwas schickt sich doch nicht. Ich bin gewiß nachsichtig – aber so etwas schickt sich doch nicht.“

Darin stand die Frau Sekretär ganz auf ihrer Seite. „J[...] junge Leute miteinander allein zu lassen, ist immer bedenklich[,“] meinte sie. „Meine Cousine Fritze hatte eine Tochter –“

„Geh doch nur,“ sagte die besorgte Mutter. „Es ist ja Unsinn, aber –“

„Da kommen sie schon wieder,“ zischelte die Wirtin, d[ie] hinter das Gebüsch getreten war und ein wenig ausgespäht hatte. „Na, die Schelte!“

Vanhusen und Martha schlenderten wirklich Arm in Arm den Waldweg entlang. Er trug um den Hut einen Kranz von zusammengesteckten Lindenblättern, eine ebensolche Schärpe über der Schulter. Auch Martha hatte sich mit Laub geschmückt und sah wunderhübsch aus. Das verkannte der junge Maler gewiß nicht, der seine Hand anf die ihrige gelegt hatte – der Handschuh war abgezogen – und sie von der Seite her aus möglichster Nähe mit verliebten Blicken betrachtete. Seine kühnsten Erwartungen hatten sich erfüllt; es war ihm gelungen, Martha zu überzeugen, daß man sich keinen größeren Gefallen thun könne, als den Schatten einer alten Linde aufzusuchen, die nicht weit vom Wege und doch durch Gebüsch gegen denselben gedeckt auf einer kleinen Waldwiese stand. Er hatte für sie von den tief herabreichenden Aesten Laub gepflückt und sie durch die Arbeit des Kranzflechtens seßhaft gemacht. Er konnte sich dann neben ihr ins Gras niederlassen und sein Herz erleichtern. Sie lauschte mit willigem Ohr und glaubte nur zu gern seinen Liebesbeteuerungen: wie es ihm gleich bei der ersten Begegnung zur Gewißheit geworden sei, sie oder keine andere, und wie er nun nicht ruhen wolle, bis er sie ganz sein eigen nennen dürfe. Sie hatte ihm gestehen müssen, daß sie ihm sehr gut sei und sich das Leben ohne ihn gar nicht mehr recht denken könne. Und als sie dann seinen Hut bekränzte, war sie kaum sehr erschrocken darüber gewesen, daß er nicht nur ihre Hände, sondern auch ihren Mund küßte und sie in die Arme schloß und gar nicht mehr freigeben wollte. Dann waren sie einig geworden, daß ihre Liebe nicht länger Geheimnis bleiben dürfe; Martha wollte sich noch denselben Abend der Mama entdecken, und Albrecht sollte am andern Tage mit dem Papa sprechen. Der Himmel hing ihnen voller Geigen; am liebsten hätten sie noch ein paar Stunden unter der alten Linde gesessen und der wundersamen Musik zugehört. Nun hatten sie nur zu bedauern, daß der Heimweg so gar kurz sei. Schon wurde das Dach des „Eulenkruges“ zwischen den Stämmen sichtbar. Martha versuchte ihre Hand fortzuziehen. Mit einem zärtlichen Blick sagte sie: „Ich kann Dir meinen Arm nicht länger lassen – wir sind gleich am Hause.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_384.jpg&oldid=- (Version vom 4.2.2021)