Seite:Die Gartenlaube (1894) 381.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Das Wöllnersche Religionsedikt vom Jahre 1788, das jede Abweichung von den Lehren der Symbolischen Bücher mit bürgerlichen Strafen und Amtsentsetzung bedrohte und der akademischen Lehr- und Lernfreiheit den schwersten Schaden bereitete, stieß in Halle auf den heftigsten Widerstand; mit seinen Maßregelungen anders denkender Professoren vermochte der derbe und herrschsüchtige Gewalthaber nicht durchzudringen.

Verhängnisvoller als das innere engherzige Zwangsregiment Wöllners wurde für die Universität die Herrschaft des siegreichen äußeren Feindes, diejenige Napoleons, als er durch die Schlacht bei Jena die Macht Preußens niedergeworfen hatte. Sein Haß richtete sich mit besonderer Heftigkeit gegen die Universitäten als die Brutstätten des rebellischen Geistes. Die milden Anordnungen Bernadottes betreffs der Universität Halle hob Napoleon selbst 1806 auf. Die Universität wurde geschlossen, aber nach Begründung des Westfälischen Königtums wieder eröffnet und der Staatsverwaltung Jeromes unterstellt. Von namhaften Lehrern wanderte Schleiermacher damals nach Berlin aus. Steffens aber, dem glänzenden Beispiel Fichtes in Berlin nacheifernd, blieb und hielt patriotische Vorträge, durch welche die vaterländische Gesinnung, der sittliche Ernst der studierenden Jugend mächtig erregt wurde, ohne daß sie der Staatsgewalt Anlaß zum Einschreiten gegeben hätten. Abermals im Jahre 1813 wurde die Universität auf Napoleons Geheiß geschlossen, doch nach dessen Sturz vom König von Preußen wieder eröffnet und am 6. März 1816 mit der Universität Wittenberg vereinigt unter dem Namen „Vereinigte Friedrichsuniversität Halle-Wittenberg“.

 Anatomiegebäude.

 Universität.
Physiologisches Institut.

Was die äußeren Schicksale derselben im Laufe dieses Jahrhunderts betrifft, so ist das wichtigste wohl die Uebersiedlung aus der „Alten Wage“ in das neuerbaute Universitätsgebäude, dessen Einweihung am 31. Oktober 1834 vollzogen wurde. Dies neue Gebäude ist auf dem Platze errichtet, wo früher das Schauspielhaus stand und der städtische Trockenplatz sich befand. Die Wissenschaft hatte bisher fast nur zur Miete gewohnt – jetzt war ihr ein neues selbständiges Heim gegründet; doch wurde der ursprüngliche von Schinkel entworfene Plan nur unvollständig ausgeführt, denn die beiden Seitenflügel, welche dem Hauptbau beigefügt werden sollten, fehlen bis heute; sie waren für die Bibliothek und die Verwaltung der Universität bestimmt und für beides mußte durch selbständige Bauten gesorgt werden. Im Jahre 1842 wurde eine allen wissenschaftlichen Anforderungen genügende Klinik errichtet; doch erst in den Jahren 1874 bis 1886 erstanden auf der von der Regierung angekauften sogenannten Maillenbreite jene Kliniken, welche zusammen mit anderen wissenschaftlichen Anlagen ein großartiges Gebäudeviertel bilden: die chirurgische Klinik mit fünf, die medizinische mit vier Blocks und einem Isolierhause, die geburtshilfliche Klinik, die Augen- und Ohrenklinik, die Anatomie, die physiologische und pathologische Anstalt. Abgesondert von diesen wurde 1892 eine Pflegestätte für die Nerven- und Geisteskranken geschaffen, ein aufs reichlichste ausgestatteter Bau wie kaum ein anderer an den preußischen Universitäten. Ein neues Bibliothekgebäude wurde 1878 bis 1882 gebaut. Das seit 1865 bestehende landwirtschaftliche Institut wurde 1876 bis 1879 durch neue Wirtschaftsgebäude erweitert; zahlreiche andere Bauten für Sammlungen und Verwaltungszwecke schlossen sich an.

Mit dieser äußeren glanzvollen Entwicklung, durch welche gerade in den letzten Jahrzehnten die Hallesche Universität vor mancher Schwesterakademie den Vorsprung gewann, ging Hand in Hand ein reges geistiges Leben. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren es die theologischen Kämpfe, welche die Geister aufs lebhafteste bewegten: auf der einen Seite freisinnige Professoren, ein Wegscheider und Gesenius, wenn auch zum Teil auf dem Standpunkte einer beschränkten Aufklärung stehend, auf der anderen Seite ein Tholuck als Vertreter „gläubiger“ Anschauungen, die er mit Geist und Ironie verfocht. Heinrich Leo, der Geschichtschreiber der italienischen Freistaaten, der eine Weltgeschichte verfaßte vom Standpunkte der äußersten Rechten, war ein Poltergeist, der jahrzehntelang durch seine Kraftausdrücke und neuerfundenen Stichwörter Aufsehen erregte. Im schroffsten Gegensatz zu ihm stand der junge Privatdocent Arnold Ruge, der hier 1838 die einflußreichen „Halleschen Jahrbücher“ gründete. Auch die ältere Hegelsche Richtung gab bis in die neueste Zeit hervorragende Vertreter in Hinrichs, Schaller, Erdmann und Haym, einem geistvollen Litterarhistoriker. Abseits stand Ulrici, der Erläuterer Shakespeares, Kunsthistoriker und Schöpfer einer Philosophie, deren Hauptwerk „Gott und die Natur“ in weiten Kreisen Anklang fand.

Alle Fakultäten hatten bis in die neueste Zeit in Halle ausgezeichnete Kräfte: wir nennen den vor wenigen Jahren verstorbenen Chirurgen Volkmann, der sich als Richard Leander auch als Dichter einen Namen gemacht hat; den Vetter des berühmten Albrecht von Gräfe, den vortrefflichen Augenarzt Karl Alfred Gräfe, der sich allerdings seit Jahren von der Universität zurückgezogen hat; den hervorragenden Strafrechtslehrer v. Liszt, den trefflichen Pandektisten Fitting – wir müßten tiefer eingreifen in die Geschichte der Wissenschaften, als es uns hier möglich ist, um alle die Namen aufzuführen, die der Friedrichsuniversität, deren Frequenz in diesem Semester 1528 Studierende beträgt, zur Zierde gereichten und noch gereichen.

Allen denen aber, die einst an den Quellen der Alma mater Fridericiana ihren Wissensdurst gestillt haben, wird in den Jubeltagen dieses Sommers[1] das Bild der lieben alten Saalestadt in besonderem Glanze vor der Seele schweben, und gerne werden sie bei den Ausschnitten aus diesem Bilde verweilen, welche die „Gartenlaube“ ihnen vor Augen führt (S. 377). Da thut er sich auf, der geräumige Marktplatz mit der schon genannten „Alten Wage“ und dem Rathaus, mit den kühn zum Himmel emporstrebenden Markttürmen; es sind dies die Türme der Marienkirche und dann der „Rote Turm“, an dessen Fuß das alte Sinnbild der Marktfreiheit und des Gerichtsbanns, eine Rolandsäule, über den weiten Platz

  1. Die öffentlichen Festlichkeiten zur Feier des Jubiläums finden in den ersten Tagen des August statt.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 381. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_381.jpg&oldid=- (Version vom 25.11.2022)