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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Was Bruder Wampo noch weiter sagte, hörte Schweiker nicht mehr; keuchend rannte er wieder davon. Wohin er wollte, das wußte er nicht; kreuz und quer durchirrte er den Wald und schrie den Namen Eberweins hinaus in die dumpfe Stille. Durch wirre Gebüsche schlug er sich und geriet in das Thal der Ramsauer Ache. Auf schmalem Pfad kam ihm die Tochter Wazes auf ihrem Rappen entgegengeritten. Sie wollte wenden, als sie den Mönch erblickte, doch mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft sprang Schweiker auf Recka zu, faßte den Zügel des Pferdes und keuchte: „Mein Herr, mein Herr . . . hast Du meinen Herrn nicht gesehen?“ Das Pferd bäumte sich, aber Schweiker hielt fest und ließ sich schleifen.

In jähem Zorn hatte Recka die Gerte gehoben; da traf sie ein Blick aus Schweikers Augen, angstvoll und verzweifelt; sie ließ die Gerte sinken und konnte die Antwort nicht versagen: „Sorge Dich nicht – Dein Herr weilet unter sicherem Dach, bei Sigenot, dem Fischer.“

Schweikers Arme ließen los, und während Recka davonritt, drückte der Bruder seine zitternden Fäuste auf die atemlose Brust. „Unter sicherem Dach!“ keuchte er, dann warf er sich zu Boden und preßte schluchzend das Gesicht ins Moos.

Dem Lauf der Ache aufwärts folgend, ritt Wazes Tochter unter den Halden der Strub vorüber und kam in das enge Waldthal, dessen Gehänge wiederhallten vom klingenden Hammerschlag der Ilsanker Schmiede. Nach kurzem Ritt erreichte sie die Stelle, an welcher die Windach ihre schäumenden Wellen in die Ramsauer Ache goß. Sie setzte über den rauschenden Bach und ritt in den dunklen Hochwald ein, um nach einer Bärengrube zu sehen, welche am Fuß einer den Wald durchschneidenden Felswand ausgeworfen war. Noch hatte sie das Ziel ihres Rittes nicht erreicht, als sie das Pferd verhielt und gegen die Höhe lauschte. Ihr war, als hätte sie vom Gewänd der Windach hernieder den angslvoll klingenden Schrei einer weiblichen Stimme vernommen. Lange lauschte sie, doch sie hörte nichts mehr als das dumpfe Rauschen des Wassers. Eine quälende Erinnerung befiel sie, und kaltes Grauen schlich ihr in das zerrissene Gemüt . . . der Schatten der armen Heilka war vor ihr aufgestiegen.

„Die Lebendigen und die Toten, alles schreit um mich her und klagt wider meine Brüder und meines Vaters Haus! Könnt’ ich doch nimmer hören! Müßt’ ich doch nimmer sehen! Hätt’ nur alles schon ein End’! Ein End’!“ Mit pfeifendem Gertenschlage trieb sie das Roß und verschwand im Dunkel des Gehölzes.

Da klang der Schrei in der Höhe wieder. Hoch über dem Geklüft der Windach, wo nah’ dem Absturz zwischen Felsen und Gestrüpp ein Albensteig emporführte gegen den König Eismann, rangen zwei Menschen miteinander. Ihre lauten Stimmen mischten sich, ihre schwarzen Gewänder und ihre weißen Haare flatterten in dem eisigen Luftstrom, der dem Sturz der Windach thalwärts folgte. Hiltidiu lag auf den Knien vor Hiltischalk und hielt ihn umklammert mit ihren dürren Armen; das sonst so milde sanfte Antlitz war verwandelt zu einem Schreckbild, jeder Zug verzerrt von Entsetzen und Todesangst. Um Hilfe schreiend, umkrampfte sie den zitternden Körper des Greises, der sich loszureißen suchte. Hiltischalks Augen glühten wie im Wahnsinn und schrill und heiser klang seine Stimme: „Laß mich, Hilti, laß mich! Jetzt muß ich rufen zu ihm, da ist das Fleckl, wo er mich hören muß! Hat er mich selbigsmal nicht auch gehört, wie ich da drunten geschrieen hab’ zu ihm: Mein guter Herre, Du mein Gott? Hat er mich nicht gehoben aus Not und Tod? Jetzt muß er mich wieder hören, jetzt muß er mich lohnen für die Treu’, mit der ich gestanden zu ihm . . .“

„So hör’ mich doch! Um Gotteswillen laß Dir sagen . . .“ jammerte das Weib.

Doch Hiltischalk hörte nicht. „Ein Urtel muß ich haben! Recht muß er sprechen nach seiner ewigen Gerechtigkeit!“

„Mann, Mann!“ schrie die Greisin mit halb erstickter Stimme. „Ja bist denn Du ein anderer geworden! Du, der allzeit Gute, der allzeit Fromme – Du willst Gott versuchen und Dich versündigen an ihm?“

„Laß mich, Hilti, laß mich! Ein Urtel muß ich haben! Wissen muß ich, ob ich fromm gelebt hab’ oder ein Verfluchter bin, ob ich Gott gedient hab’ oder der Höll’!“

„Denk’ schon nimmer an mich und meine Lieb’ . . . nur laß Dich bitten: versuch’ den Himmel nicht . . .“

„Ein Urtel muß ich haben! Ich muß! Ich muß! Laß Deine Händ’ von mir ... und hab’ nur keine Sorg’ ... er wird mich heben aus Not und Schmerzen! Hab’ nur acht, wie er demselbigen zeigen wird: was Gott vereinet, können Menschen nimmer trennen! Laß Deine Hand’ von mir! Ich muß! Ich muß! ...“

Er riß sich los und taumelte zum Rand der Felsen. Gellend hob sein Ruf sich zu den Wolken: „Mein guter Herre, Du mein Gott!“ Und mit ausgebreiteten Armen, brennenden Blicks die grau verschleierte Höhe suchend, trat er hinaus ins Leere. Unter herzzerreißendem Schrei hatte Hiltidiu sich aufgerafft und wankte ihm nach mit brechenden Knien. Ihre Hände haschten noch sein flackerndes Gewand, sie wollte nicht lassen von ihm und stürzte, von seinem Fall gezogen, mit ihm hinunter in die dunkel gähnende Tiefe . . .

Dumpf rauschte die Windach, ihre grauen Wasserdämpfe stiegen auf, und in der Tiefe rollten ihre Wellen den immer gleichen Weg, die fallenden Steine verschlingend, den weichenden Erdgrund fressend und alles Wachstum mordend, das ihr zu nahe kam. Sie gab nicht wieder, was sie genommen. Ein Urteil war gefallen, und es lautete, wie Hiltischalk gehofft: nun war er ledig aller Not und Schmerzen und war vereint mit seinem Weib für alle Zeiten.

Dumpf rauschte die Windach; ihre lohenden Wellen erschütterten den Felsengrund und machten den Steg erzittern, der die finstere Kluft überspannte. Da schwankte der Balken unter dem festen Schritt eines Mannes. Pater Waldram suchte den Heimweg. Ohne Grauen blickte er nieder in die finstere Tiefe, furchtlos überschritt er die Kluft Er wußte sich in Gottes Hut! Hatte er nicht das stolzeste Werk seines Lebens an diesem Tag vollführt? War ihm heute der Dank des Himmels nicht doppelt gewiß, da er Gottes Haus gesäubert von Laster und Aussatz, eine ganze Gemeine mit hundert Seelen gerettet hatte vor ewigem Verderben? Sicher trug ihn der Steg.

Als er die Blöße des Ufers überschritten hatte und in den von Dorngestrüpp umwachsenen Hochwald trat, vernahm er einen jauchzenden Ruf, der das Rauschen des Wassers übertönte. Ueber ihm, in der Weite eines Bogenschusses, hielt Recka auf ihrem Pferd vor dem Absturz der Felsen. Sie hatte in die Tiefe geblickt, dann mit den Augen den Pfad im Thal gesucht. „Ist denn mein Leben noch den Umweg wert?“ Lachend hatte sie das Roß zum Sprung getrieben. „Heilka, jetzt ruf’ die Alfen der Windach auf . . . laß sie greifen nach Hennings Schwester!“ Und mit dem jauchzenden Schrei, welchen Waldram gehört, hatte sie den Anlauf zum Sprung genommen. Doch vor dem Absturz der Felsen stockte das Pferd im Lauf mit vorgeschobenen Hufen und scheute zurück. „Willst Du nicht?“ lachte Recka. „Ich sag’ Dir aber: Du mußt!“ Sie lenkte rückwärts und begann von neuem den Anlauf, die Flanke des Pferdes mit der Gerte peitschend. Nun sprang das Roß, vorgestreckten Halses, mit wehender Mähne flog es über die Kluft. Seine Hufe gewannen das Ufer, wohl brach unter ihm der hohle Rasen, doch es schnellte sich vorwärts und stand auf fester Erde, zitternd an allen Gliedern.

„Gott schütze Dich!“ hatte Waldram geschrieen und wie in heißer Angst um dieses Weib die Arme ausgestreckt.

Recka sah ihn nicht und hörte keinen Laut seines Rufes. Das schöne Antlitz von tiefer Blässe überzogen, blickte sie mit verlorenem Lächeln rückwärts in die Tiefe. „Den Himmel find’ ich nimmer, die Höll’ begehrt mich nicht . . . wohin denn jetzt? Wieder heim in meiner Brüder Haus!“ Sie streichelte den Hals des Pferdes und ließ es mit hängendem Zügel in den Hochwald treten.

Als sie verschwunden war, schien Waldram wie aus einem Traum zu erwachen. Brennende Röte schoß ihm in Stirn und Wangen, während er die beiden Fäuste auf seine Augen schlug. „Teufelin! Hat Dich zum anderenmal die Hölle geschickt, mich zu versuchen?“ Mit zuckenden Händen faßte er seine Brust. „Sündiges Fleisch, erbärmliches Gefäß du einer gottgeweihten Seele ... ich will dich züchtigen!“ Gestreckten Leibes warf er sich in einen Dornbusch und wälzte sich auf den stachligen Ranken.




25.

Dem trüben Tage folgte ein grauer lichtloser Abend. In einem der hölzernen Wächtertürmchen, welche die Ecken der um Wazemanns Haus gezogenen Mauer krönten, stand Henning bei seinem vertrauten Knechte. Sie redeten mit gedämpften Stimmen.

„Das weißt Du gewiß, daß er seit Tagen nicht mehr ausgefahren ist zur Fischweid?“

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