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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Nr. 22.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

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Die Martinsklause.
Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(21. Fortsetzung.)


Von allen, die um Hiltischalk und Hiltidiu gestanden, war eine einzige nur geblieben, die Magd. Die Hände verkrampft, mit verzerrtem Gesicht und aufgerissenen Augen, kauerte sie auf der Erde. „Willst Du allein dem Himmel nicht folgen?“ schrie Waldram und faßte ihren Arm. „So will ich Dich der Hölle mit Gewalt entreißen!“ Keuchend wehrte sich die Magd; doch Waldram schleifte sie zur Kirche und stieß sie in das offene Thor.

Mit zitternden Händen griff Hiltischalk nach seinen Augen, als müßte er eine Binde niederreißen, die ihm das Sehen wehrte. „Hilti, Hilti!“ lallte er. „Komm! Jetzt müssen wir rufen zu Ihm! Er muß uns hören! Er muß!“ Mit versagenden Knien taumelte er der Kirche zu. Doch Waldram stand vor dem Thor und streckte wehrend die Arme. „Weiche von dieser Schwelle, die Dein Fuß entweiht! Hier wohnt Gott – wo Du bist, brennt die Hölle!“ Das Kreuz erhebend, trat er rücklings in das Dämmerlicht der Kirche. Dröhnend schloß sich das Thor, und der eiserne Riegel klirrte.

Hiltischalks Hände griffen zuckend ins Leere, er drohte niederzustürzen, doch Hiltidiu eilte herbei und stützte ihn; mühsam bezwang sie ihre Thränen und redete zu ihm mit ihrer sanften leisen Stimme, aber was sie auch sagte … er schüttelte den Kopf und wehrte zornig mit den Händen. Wie hätte er auf Worte hören sollen? Er sah die Welt zertrümmert, die sein reiner Glaube und die Liebe ihm erbaut hatten in seinem Herzen, er sah das Haus zerstört, darin er gewohnt in Glück und Frieden. Er hatte gesät durch sechzig Jahre … und wie lag die Ernte jetzt vor ihm? Verwüstet in einer kurzen Stunde! Wovon nun sollte er zehren? Wie sollte er noch leben können?

Mit verstörten Augen blickte er sein Kirchlein an, sein Haus, die welkende Linde und die Gräber; dann hoben sich seine Blicke empor zum grauen treibenden Gewölk, und keuchend rang es sich aus seiner Brust: „Rufen muß ich! Rufen! Rufen! Hat er mich nie gehört … heut muß er mich hören! Und darf ich auch nimmer hinein in das heilige Haus – komm, Hilti, komm, ich weiß schon ein Platzl, wo ich rufen kann, ein Fleckl, wo er mich hören muß!“


An der Unteren Lände in München.
Nach einer Originalzeichnung von P. F. Messerschmitt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_357.jpg&oldid=- (Version vom 20.9.2021)