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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Mit Cichorie lasse ich mir kein X für ein U machen, meine Liebe,“ versicherte Frau Schöneberg.

Ihr Mann goß den Rest aus seiner Tasse ins Gras. „Das letzte war wirklich schon dick,“ sagte er.

„Dort kommt auch schon die zweite Portion,“ begütigte Rosine, nach dem Hause zeigend.

Martha, die kaum ihre erste Tasse ausgetrunken hatte, war schon aufgestanden und an das Ringspiel getreten. Sie schien sich aber keine besondere Mühe zu geben, den Ring in den Haken zu werfen, sondern ließ ihn nur hin und her pendeln. Lieschen war ihr gefolgt und sah aufmerksam zu. „Laß mich auch einmal werfen – ja?“ bat sie.

„Du triffst nicht.“

„Du triffst auch nicht!“

„Die Schnur ist zu kurz. Nun versuch’s doch.“ Sie gab ihr den Ring in die kleine Hand, wartete nun aber nicht auf den Treffer, sondern ging von einem Baume zum andern bis in die Nähe der Chaussee und blickte diese entlang, als ob sie jemand erwartete. Sie erwartete auch wirklich jemand, an den sonst keiner dachte.

Lieschen kam ihr bald nachgelaufen. „Warum guckst Du denn immer dorthin?“ fragte sie.

„Das geht Dich nichts an!“

„Ich will’s ja auch bloß wissen“ schmollte die Kleine. Da Martha sie gar nicht beachtete, gab sie ihr einen Schlag auf den Rücken – „den letzten“ – und lief nach dem Tisch zurück. Dort kletterte sie auf die Bank und sprach kniend dem Kuchen zu. Die Großmama zupfte das Kleidchen zurecht.

Die Wirtin hatte an der zweiten Kanne nicht leicht zu tragen. „Wohl bekomm’s den Herrschaften,“ sagte sie.

„Na, wenn das nicht ausreicht!“ rief Schöneberg. Seine Frau hob den Deckel auf und sah hinein. „Und ganz voll!“ sagte sie verwundert. „Sie haben doch das zweite Mal nicht –“

„Das Wasser kostet ja nichts,“ meinte die Wirtin ganz vergnügt.

„Ein schöner Trost,“ zischelte Opitz zu Frau Ida hinüber.

„Trinkt unser Kutscher auch nicht zu viel, liebe Frau Wirtin?“ fragte die Frau Sekretär besorgt.

„Wasser? Ne, das is nie nicht seine Leidenschaft – ich kenn’ ihn. Ach so!“ Sie merkte, was das Kopfwiegen der alten Dame bedeuten sollte. „Ja, die Herren haben ihn doch aufgemuntert, auch ’mal ein Glas zu trinken. Viel bitten läßt so einer sich nicht.“

„Wenn’s nur nicht zu viel wird! Man muß doch auch an die Rückfahrt denken.“

„Jetzt schon?“ rief Schöneberg lachend.

Die Wirtin blickte über den Tisch hin. „Kann ich den Herrschaften mit sonst etwas dienen? Schöne frische Butter –“

„Nachher,“ unterbrach Frau Schöneberg. Sie goß wieder Kaffee ein. „Den Wein haben Sie doch kalt gestellt?“

„Im Brunneneimer.“

„Ich komme hinein.“

„Wird mir eine große Ehre sein.“ Die Wirtin knixte und entfernte sich.

Opitz schien die neue Auflage sehr gut zu munden. „Von unserem Kuchen haben Sie sich noch gar nicht bedient,“ sagte Ida, ihm den Teller hinhaltend. „Darf ich Sie auf diesen Windbeutel aufmerksam machen?“

„Wenn das nicht eine Anspielung ist, schöne Frau –“

„O, was denken Sie! Mit richtiger Schlagsahne.“

Lieschen hatte beide Hände voll. „Aber so laß doch das Kind sich nicht mit dem Kuchen vollstopfen, Ida!“ warnte Frau Streckebein. „Es ist schon das fünfte Stück.“

„Das vierte, Großmama!“

„Du wirst Dich an Deinem Geburtstag noch krank essen.“

„So eine Kremserfahrt macht hungrig, Frau Steueramssekretär,“ entschuldigte Opitz.

Schöneberg hatte seine Tochter vermißt. „Aber was thut das Mädel denn dort?“ fragte er. „Martha!“

Martha kehrte sich erschreckt um. Eben glaubte sie in weiter Ferne mit ihren scharfen Augen etwas entdeckt zu haben. „Papa?“

„Setz’ Dich doch zu uns an den Tisch! Die Chaussee ist ja langweilig.“

Während sie langsam heranschlenderte, meinte Ida: „Junge Mädchen schwärmen gern recht weit mit ihren Gedanken aus. Ich weiß das aus meiner Jugend.“ Opitz schnitt dazu eine Grimasse. „So eine Chaussee hat eine endlose Perspektive.“

„Du bist ja so still, Martha. Fehlt Dir etwas?“ erkundigte sich Frau Schöneberg nach einer kleinen Weile.

„Ach, nichts, Mama!“

„Ich schlug Dir vor, Bethmanns Laura aufzufordern, damit Du Gesellschaft hättest. Du wolltest ja nicht. Merkwürdig! Immer am liebsten allein.“

„Ich unterhalte mich mit Lieschen sehr gut,“ versicherte Martha und rückte zu ihr.

„Iß nicht mehr, Lieschen!“ befahl die Frau Sekretär und zog ihr den Teller fort.

Im nächsten Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine schreckhafte Erscheinung abgelenkt. Ein Bettler hatte sich vom Walde her dem Tisch genähert, nach dem langen schwarzen Haar und den dunkeln Augen zu schließen ein Zigeuner. Er hielt, dicht hinter ihr, den breitkrempigen Filzhut vor sich hin und bat um eine milde Gabe. Sie rückte eiligst fort. „Was ist denn das für ein Mensch?“

„Armes Zigeuner – bitten um eine milde Gabe, gnädige Herrschaften.“

„Hier wird nicht gebettelt,“ wies Schöneberg ihn ab.

„Haben Mitleid mit armes Zigeuner. Frau und Kinder hungern sehr.“

„Zigeuner im Walde!“ rief Ida. „Das ist ja romantisch. Könnt Ihr auch wahrsagen?“

„Laß ihn doch!“ bat Frau Streckebein ängstlich.

Der Zigeuner blinzelte in seinen Hut. „Kann ich wohl wahrsagen, gnädigstes Fräulein,“ sagte er, „äber weiß ich doch nicht, ob zutrifft. Gnädige Herrschaften sein zu klug – glauben doch nicht armes Zigeuner.“

Ida ließ sich so nicht vertrösten. „Es kommt darauf an. Hier meine Hand – nun?“

„Aber nicht doch, Ida!“

Der Zigeuner sah in die ausgestreckte Hand. „Kann ich gnädiges Fräulein versprechen eine schöne junge Mann, serr reich, serr fein –“

„O weh!“ rief Opitz.

„Weshalb?“ fragte Schöneberg.

„Ich hoffe, er lügt.“ Opitz warf eine Silbermünze in den Hut. „Für das schöne Fräulein!“

„Er vertrinkt’s doch nur,“ meinte Schöneberg, fügte aber doch einen Nickel hinzu. „Nun macht aber, daß Ihr fortkommt!“

Der Zigeuner zog sich mit lebhaften Dankbezeigungen zurück.

Die Frau Sekretär stand sogleich auf und trat an den Tisch, auf dem die Sachen lagen. Sie hob Mäntel, Tücher und Schirme einzeln auf.

„Was suchst Du, Mama?“ fragte Ida.

„Ich sehe nur nach, ob nichts fehlt,“ antwortete die vorsorgliche Dame. „Wenn ein so verdächtiger Mensch in der Nähe ...“ Sie kehrte weiter Stück für Stück um.

„Aber er ist gar nicht an den andern Tisch getreten.“

„Wir können vorher nicht aufgepaßt haben. Zigeuner sind Diebe, das ist bekannt. Hast Du Deinen Sonnenschirm, Ida?“

„Ja, Mama!“

„Aber Lieschens Handschuhe – ach, da stecken sie im Mäntelchen. Es scheint alles da zu sein.“ Sie setzte sich wieder.

Indessen hatte sich auf der Chaussee ein Radfahrer genähert. Vor dem Wirtshause sprang er geschickt ab, leitete sein blitzendes Zweirad zu Fuß um das Haus herum bis zur hinteren Thür und stellte es dort an die Wand. Er trug das bekannte Kostüm der Radfahrer: kleine Schirmmütze, blaues enganschließendes Wams mit Außentaschen, Kniehosen, Strümpfe und Schnürstiefel. Er war mittelgroß und wohlgewachsen, das schwarze, an den Spitzen aufgedrehte Bärtchen gab ihm ein keckes Aussehen. Mit einem Taschentuch klopfte er sorgfältig den Staub von den Kleidern ab.

Martha hatte ihn sogleich bemerkt und ein leises: „Ach, da ist er!“ nicht unterdrücken können.

„Wer?“ fragte Schöneberg, sich umsehend. „Ein Radfahrer! Die Kerls machen auch alle Straßen unsicher.“

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_355.jpg&oldid=- (Version vom 27.11.2020)