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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Blick auf Wisby von der „Rabenklint“.

„Galgenberg“ oder die „Rabenklint“. Noch stehen die drei Kalksteinpfosten, an deren Querbalken man einst die Diebe hing. Die Lage der Insel inmitten der Ostsee brachte es mit sich, daß die Bewohner sich bald nicht mehr an Viehzucht und Ackerbau genügen ließen, sondern als kühne Wikinger, d. h. zugleich als Räuber und als Kaufleute, hinausfuhren, um Schätze zu sammeln. Mancher tapfere Seekönig liegt in Gotlands Hünengräbern gebettet. Arabische Münzen, die man zu Tausenden in Gotlands Erde fand, zeugen von dem uralten Handelsverkehr Gotlands über Großnowgorod und Byzanz nach dem Morgenlande. Und als das Christentum eingeführt war, da zogen die nordischen Pilger am liebsten über Gotland und Rußland zu den heiligen Stätten Palästinas. Selbst als durch die Kreuzzüge der Handel in andere Bahnen gelenkt worden war, blieb Großnowgorod noch immer der Stapelplatz für die Waren des Westens und Ostens und Wisby die unvermeidliche Zwischenstation, da man noch ängstlich von Landspitze zu Landspitze fuhr, um den Weg nicht zu verfehlen.

Die Stadt Wisby, an einer Einsenkung vor der Klint liegend, war die einzige auf Gotland und bald der Mittelpunkt des Ostseehandels und der deutschen Hansa. Die unternehmenden westfälischen Städte, wie Soest und Dortmund, und die neuen Ostseestädte, wie Lübeck, finden sich schon zu der Zeit Kaiser Lothars im Anfang des 12. Jahrhunderts durch wagende Männer dort vertreten. Von allen Küsten der Ostsee strömten die Kaufleute zusammen, auch die Russen. Jedes Volk hatte seine Kirche, aber die zahlreichen Deutschen hatten deren viele. An achtzehn Kirchen zählte Wisby in seiner Glanzzeit, von denen einige jetzt bis auf die letzte Spur verschwunden sind, neun in majestätischen Ruinen daliegen und nur noch eine einzige von der heute etwa 7000 Seelen starken Einwohnerschaft benutzt wird. Wegen der Vielheit der Zungen und Völker gab es manchen Zwist, und man bat seinerzeit Heinrich den Löwen um einen Vogt. Aber trotz des dauernden Uebergewichts der Deutschen wußte sich die gotländische Bauernschaft vor der Germanisierung klug zu bewahren. In Wisby war ein gotischer und ein deutscher Vogt, die eine Hälfte des Rats bestand aus Deutschen, die andere aus Goten. Jede Gemeinde führte ein eigenes Siegel, die deutsche die Lilie, die gotische das Lamm. Noch heute ist das Lamm Wisbys in Gotlands Wappen, denn Gotlands Schafzucht war von alters her berühmt, erst die christliche Symbolik deutete dies Wahrzeichen in das „Lamm Gottes“ um. In Wisby war der Wechsel der Bevölkerung früher so stark, daß jeder in den Rat gewählt werden konnte, der ein Jahr Bürger war! Aber gotische Bauerngüter durfte nur der erwerben, dessen Familie durch drei Geschlechter auf Gotland ansässig gewesen war.

Der Gegensatz zwischen Stadt und Land führte zu manchem Strauß. So baute man im 13. Jahrhundert rasch eine leichte Stadtmauer, die den ersten Anprall einer feindlichen Schar aushalten konnte; erst später verdickte und erhöhte man sie, und noch heute zeigen die Spitzbögen der Innenseite diese Flickarbeit. Dann wurde die Mauer mit achtundvierzig Türmen versehen, die fast sämtlich, selbst die über den Thoren, nach innen offen sind, also sogenannte „Schildtürme“ bilden. In ihrer Gesamtheit macht die fast vollständig erhaltene Befestigung noch heute einen großartigen Eindruck. Die östliche Mauer auf dem hohen Klintrand überragt mit ihren Türmen alle Häuser und Kirchen zu ihren Füßen, im einzelnen aber bemerkt man überall Spuren der Eile, mit der diese Befestigung einst aufgeführt wurde. Nur einzelne Türme haben vier Wände, wie der „Silberhut“, der einst als Münze diente.

Die „Högklint“.

Schöner sind die Kirchen, selbst noch in ihren Ruinen. Zwar zeigen sie nicht so zierlich durchbrochenes Maßwerk wie die rheinischen Backsteinkirchen, aber dennoch bieten sie eine überraschende Fülle reizvoller Formen, besonders im Vergleich mit dem übrigen Norden. Zu den merkwürdigsten gehört die Georgskirche, welche sich auf obenstehender Gesamtansicht der Stadt im Vordergrunde zeigt. Wie alle Georgskirchen des Mittelalters steht sie vor der Stadt und war für die Aussätzigen bestimmt. Heute dient sie den Schiffern als Seezeichen: decken sich die beiden Giebel und die Zwischenmauer vollständig, so kann man geradeaus in den Hafen steuern. Die schönste Ruine ist die von St. Katharina am großen Markt (siehe S. 329). Ihr Inneres mit den wohlerhaltenen Gurtbögen bildet das Entzücken aller Reisenden. Höchst eigenartig ist die St. Drottenkirche. Ihr riesiger Turm soll bis in die mauerlose Zeit Wisbys zurückreichen und einst als Bergfried gedient haben. Der Leser kann den Turm noch deutlicher links auf dem Bilde der Marienkirche sehen, und rechts neben der Marienkirche mit dem später aufgeklebten Laternenturm, sowie neben der Apotheke mit dem Treppengiebel erblickt er den ebenfalls bergfriedartigen Turm von St. Lars. Die beiden Kirchen sind nur durch eine schmale Straße getrennt und heißen die „Schwesterkirchen“, denn die Sage erzählt, zwei Schwestern hätten sich so wenig miteinander vertragen können, daß die eine sich eine eigene Kirche neben die Pfarrkirche gebaut habe, um nur nicht mit ihrer Schwester in dieselbe Kirche gehen zu müssen. Solche kleinen Scherze konnte man sich in Wisby schon erlauben, denn, wie ein altes Volkslied meldet:

„Mit Zentnern wägen die Goten das Gold
Und würfeln um Edelsteine,
Goldspindeln haben die Frauen hold
Und silberne Tröge die Schweine.“

Ist es da so wunderbar, daß die reiche Stadt Waldemar Ackerdag, den Dänenkönig, reizte? Uneinig wie immer, kämpfen zuerst die Bauern allein gegen ihn und unterlagen zweimal; nicht besser erging es den Bauern und Bürgern, als sie sich am 27. Juli 1361 vereinigt unter Wisbys Thoren gegen den fremden Eroberer schlugen. Und diesmal war Waldemars Sieg

entscheidend. Die Sage erzählt, König Waldemar

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_332.jpg&oldid=- (Version vom 26.11.2019)