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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


während er mit erhobener Fackel dahinstolperte durch den finsteren Wald, und seine Stimme klang so gepreßt, daß es gar weit nicht hallen konnte, wenn er Eberweins Namen rief. Manchmal, wenn ein Tannenzapfen durch die Aeste fiel oder der Sprung eines flüchtenden Wildes sich hören ließ, schrak er zusammen, daß es eine Weile dauerte, bis er die Kraft seiner Glieder wieder fand. Seine Stangenbritsche in der Klause war hart, doch mit heißer Sehnsucht dachte er jetzt an die gute Stätte unter Dach. Aber bei allem Jammer, den er mit stammelnden Worten zwischen seine Stoßgebete mischte, schritt er weiter und weiter, denn großer als seine Angst war noch die Sorge um den geliebten Herrn. Er schrie und schrie ... Plötzlich wich der Grund unter seinen Füßen. Kreischend nach einem Halt suchend, ließ er die Fackel sinken, und während sie erlosch, stürzte er, wie er meinte, in bodenlose Tiefe. Es that einen lauten Klatsch, als Bruder Wampo festen Boden erreichte. Ein Wust von Reisig fiel hinter ihm her und überschüttete ihn. Stammelnd raffte er sich aus, warf die stachligen Reiser von sich ab und fühlte nach seinen Gliedern; sie waren ganz und heil. „Ein Glück, daß ich gute Polster hab’!“ meinte er und begann in der Finsternis mit gestreckten Händen umherzutappen. Ueberall griff er steile glatte Erdwände, nirgends fand er einen Halt, an dem er sich hätte emporziehen können – und ob er sich auch auf die Fußspitzen reckte, er konnte den Rand der Grube nicht erreichen. Er tappte und tastete ... und da geriet ihm etwas unter die Hände. Fest griff er zu. doch mit einem Schrei des Entsetzens wich er zurück ... seine Hände hatten struppiges Haar gegriffen. Und da fuhr auch schon ein unsichtbares Etwas im Kreis um ihn her wie der ledige Teufel. Bruder Wampo sah nichts, er fühlte nur die Püffe, die er bekam, hörte ein Schnauben, Springen und Scharren ... das währte eine Weile ... dann wieder war Stille um ihn her. nur hoch über ihm rauschten die Bäume leis im Nachtwind. Er taumelte, geriet in eine Ecke und kauerte auf die Erde, mit lallender Stimme betend. Seine Glieder waren wie gelähmt, er wagte keinen Finger mehr zu rühren und starrte mit aufgerissenen Augen auf die beiden runden glimmenden Lichter, die er nah’ vor sich in der Finsternis erblickte. Und wenn ihm die betende Stimme erlosch, hörte er den fliegenden Gang lechzender Atemzüge, wie ein Jagdhund atmet nach der Hetze. Das Grausen machte seine Sinne wirbeln, und die schweißtreibende Angst malte ihm das Bild eines Ungeheuers vor Augen, mit Drachenflügeln und aufgesperrtem Rachen, groß genug, um einen Berg zu schlingen, geschweige denn das winzige Bröcklein, welches Bruder Wampo hieß.

Fern, im Thal der Ache, klang die rasende Stimme Schweikers und die Berge warfen ihren Hall zurück. In Zwischenräumen ertönte beim Lockistein die Glocke. Weit drangen ihre Klänge in der stillen Nacht, über die Gehänge des Göhl empor, hinaus über die Halden der Strub und das Thal entlang bis zum Schönsee und zu Wazemanns Haus, an welchem ein einsames Fenster in mattem Licht erschimmerte. Es war das Erkerfenster in Reckas Kammer. Neben dem Spiegel flackerte die Leuchte. Mitternacht war lange vorüber, und noch immer stand das Lager unberührt. Recka saß, mit dem nackten Arm über die Brüstung des Fensters gelehnt. Lautlose Stille herrschte draußen im Saal, im ganzen Hause, nur aus dem Hof herauf drang manchmal ein Geräusch: die gefangenen Raubtiere wachten in ihrem Käfig. Recka spähte nach dem Himmel. Ein bleicher Schein begann über den östlichen Bergen das Firmament zu erhellen und die Sterne zu löschen. Als hätte sie auf diese Helle gewartet, so nickte sie vor sich hin und erhob sich. Inmitten der Kammer stand sie noch einmal lauschend stille; dann streifte sie die Schuhe von den Füßen, nahm die Leuchte und schlich auf nackten Sohlen in die Herrenstube. Als sie zurückkehrte, mit einem Schlüssel in der Hand, stand sie und schüttelte sich, als möchte sie die Erinnerung des häßlichen Bildes, das sie gesehen, von sich abwerfen. Lautlos schritt sie hinaus in die Zeugkammer, der Zugwind rührte die Flamme der Leuchte, und die Jagdnetze, die Sauspeere und eiserne Raubtierfallen warfen ein zuckendes Gewirr von Schatten über die Wände. Recka erreichte den Unterstock des Hauses, über eine zweite Treppe ging es nieder, und nun hielt sie vor der niederen Thüre des Bußloches. Sie öffnete das Hängeschloß und schob den Riegel zurück. Als die Thüre sich aufthat und der Schein der Leuchte in den Kerker fiel, stand Recka überrascht und ergriffen im innersten Herzen. Einen Verzweifelnden wähnte sie zu finden – und sah zwei Menschen, schlummernd in stillem Frieden. Eberwein saß auf dem Steinblock, an die Mauer gelehnt, von seinen Armen umschlungen, ruhte ihm der Knabe an der Brust; so schliefen sie, Wange an Wange. Recka berührte die Schulter des Mönches. Als Eberwein erwachte und die vom Lichtschein umzitterte weiße Gestalt erblickte, welche vor ihm stand, wie herausgetreten aus seinen wundersamen Träumen, stammelte er: „Gott sandte seinen Engel ...“ Da erkannte er Recka und verstummte, tief errötend.

Huze schlug die Augen auf und erzitterte beim Anblick der Wazemannstochter. „Schweige, Kind!“ flüsterte Eberwein und drückte ihm die Hand auf die Lippen. Der Schein der Lampe fiel über das leichenfahle Gesicht des Knaben mit den hohl liegenden Augen, über die abgezehrten, von Lumpen umhüllten Glieder und über die mit geronnenem Blut bedeckten Füße mit ihren Wunden. Ein Grauen schüttelte Reckas Nacken. „Wer ist der Bub’?“

„Ein Opfer Deiner Brüder. Blick her, wie sie an ihm thaten um geringe Schuld!“

„Das wußt’ ich nicht!“ stammelte Recka.

„Ich glaube Dir, denn Dein Herz ist gut! Und kamst Du, um mir die Freiheit zu bringen, ich danke sie Dir um dieses Knaben willen.“

Eine Weile stand Recka schweigend; sie mußte die Augen von dem Knaben wenden, denn sie ertrug den Anblick seiner Wunden nicht. Zur Thüre lauschend, sagte sie flüsternd: „Löset Eure Schuhe von den Füßen.“ Eberwein ließ den Knaben auf den Steinblock nieder, löste die Sandalen und knüpfte sie an seinen Gürtel.

„Folgt mir!“ Recka erhob die Leuchte und schritt zur Thür.

Eberwein nahm den Knaben auf seine Arme und flüsterte ihm zu: „Fürchte Dich nicht!“ Da schüttelte der Bub’ den Kopf, und seine Augen glänzten. „Fürchten? Es ist doch der gute Vater mit uns!“

Fester umschlang ihn Eberwein, als er die Schwelle des Kerkers überschritt. Recka schloß die Thüre, schob den Riegel vor und drehte den Schlüssel um. Lautlos stiegen sie die Treppe hinauf, sie erreichten die Zeugkammer und Recka öffnete die Thüre ihres Gemachs. Auf der Schwelle zögerte Eberwein, er schien zu erkennen, welchen Raum er betrat, und die Stirn von dunkler Röte übergossen, sagte er mit gepreßter Stimme: „Führet mich anderen Weg ... um Euretwillen!“

„Anderen weiß ich nicht! Tretet ein! Rasch!“

Als sie zur Saalthür kamen, flüsterte Eberwein: „Ich bitt’ Euch, reichet mir Zeug, daß ich die Wunden des Knaben verbinde.“

Recka zog die Hirschdecke von ihrem Lager, riß von dem Hanftuch, welches über die Haut geschlagen war, einen Streifen ab und schob ihn hinter den Gürtel des Mönches. Dann löschte sie die Leuchte und faßte Eberweins Arm. „Laßt Euch führen und seid ohne Sorge ... sie liegen im Rausch.“

Nun traten sie hinaus in die Herrenstube. Bleiches Mondlicht fiel durch die offene Hallenthür und alle Fenster. Gestürzte Sessel lagen umher, auf dem verwüsteten Tisch und auf dem Estrich schimmerten die zinnernen Kannen, in lang ausgeronnenen Lachen spiegelte sich der Mondschein, und der verschüttete Met erfüllte den ganzen Raum mit widerlich süßem Geruch. Henning und Otloh lagen wie Klötze unter dem Tisch; vor der Thür, welche zur Kammer der Buben führte, war Eilbert niedergesunken, und Herr Waze lag in den Kleidern auf seinem Spanbett, schnarchend, mit Kopf und Armen niederhängend über die Kante. Eberweins Schritte stockten, doch Recka zog ihn mit sich fort, in die Halle hinaus und hinunter in den Hof. Als sie dem Zwinger sich näherten, schlugen die Hunde an, doch mit leisem Lockruf machte Recka sie verstummen. An der Mauer öffnete sie eine Pforte, welche gegen die Höhe des Berges führte. „Nach hundert Gängen teilt sich der Pfad,“ flüsterte sie, „Ihr müßt zur Rechten schreiten und die Mauer umgehen. So gelangt Ihr auf den Reitweg, der Euch zur Ache führt und“ – ihre Worte zögerten und klangen heiser – „und zum Haus des Fischers. Unter seinem Dache seid Ihr sicher, er ist ein starker und redlicher Mann!“

Schwer atmend rückte Eberwein den Knaben höher an die Brust. „Ich kann Euch zum Dank die Hand nicht bieten ... mag Gott Euch diese Stunde lohnen! Ihr habt gethan an mir wie eine Schwester an ihrem Bruder.“

„Ihr, mein Bruder?“ klang Reckas rauhe Antwort. „Ihr mahnet mich zur Unzeit, daß ich Brüder habe und einen Vater.“ Und von Eberwein sich wendend, schloß sie mit ungestümer Hand die Pforte. Sie wollte zum Hause schreiten doch ihre Knie wankten und neben dem Zwinger sank sie nieder auf die Steine. Winselnd streckten die Hunde ihre Schnauzen durch die Lücken der Stangen und fuhren mit den heißen Zungen nach Reckas Gesicht und Händen.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_328.jpg&oldid=- (Version vom 28.10.2020)