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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Nr. 20.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(19. Fortsetzung.)


Herr Waze faßte mit jähem Griff das Pergament, auf dem das Lied des bischöflichen Narren verzeichnet stand, während Rimiger brummte: „Eine solche Narretei! Um Schelmenlieder sollen wir uns kümmern, wo es hergeht um unsere Haut.“

„Der Narr ist des Bischofs liebster Gesell - er muß wissen um seines Herren Meinung, Bub’! Ich schwör’ darauf: es steht ’was in dem Lied!“ Herr Waze starrte auf die Rolle in seiner zitternden Hand und griff nach seinem kahlen Scheitel. „Es muß’ was stehen in dem Lied - aber wer liest mir’s denn? Ich müßt’ ja rein zum Hiltischalk in die Ramsau schicken! Doch wenn er gelesen hat ... wie schließ’ ich ihm das Maul?“

„Der Haunsperger hat gemeint, Du hättest ja vier gute Freund’ im Gadem, die sich wohl aufs Lesen verstehen!“

Verblüfft sah Herr Waze seinen Buben an; dann schüttelte er den Kopf und entfaltete das Pergament. In zierlicher Schrift stand Zeile unter Zeile; doch Herr Waze verstand nur eines: das kleine in bunten Farben ausgeführte Bildchen, welches der erste Buchstabe umschloß. Auf dem Wipfel einer Fichte war ein Nest zu sehen, welches vier Raben umflatterten; um den Fuß des Baumes drängte sich ein Häuflein seltsamer Tiere - sie waren rot gemalt, und man konnte sie wohl als Füchse deuten; über dem Baum, in blauer Luft stand ein Adler mit gebreiteten Schwingen. Herr Waze lachte. „Komm!“ sagte er. „Jetzt mag der Würfel fallen, wie er will!“ Er stieg zur Halle hinauf. Lautes Gelächter tönte aus der Stube, und die Stimme Sindels klang: „Nimm Dich in acht, Otloh, der Pater sitzt neben Dir ... wenn Du noch einmal so übel scherzest, fahrt er Dir mit einem Sprüchlein über den Schnabel, das Dir schmecken wird wie eine Kratzbürst’!“

„Was hat er denn so Arges gesagt?“ verteidigte Eilbert den jüngeren Bruder. „Es ist doch die Wahrheit, daß sich der Pater um die Bauern sorgt wie eine Bruthenn’ um ihre Küchlein! Und das muß er thun, schon seinem Namen zu lieb! Wer Eberwein heißt, der muß gut Freund sein mit den Säuen.“

Johlendes Gelächter erhob sich, während Recka zornig aufsprang. „Eilbert!“ Sie wollte den Arm des Bruders fassen, doch Eberwein vertrat ihr den Weg; sein Gesicht war bleich, und seine Stimme bebte. „Laßt ihn! Wenn Eure Brüder die Gegenwart der Schwester nicht achten, wie soll ich erwarten, daß sie Ehrfurcht zeigen vor meinem Kleid und vor dem Gast ihres Vaters!“ Da trat Herr Waze in die Stube, der Ausdruck seines Gesichtes und der Anblick Rimigers machten die Lachenden verstummen; sie wußten was dieser Augenblick für sie bedeutete; aus der Kammer ließ sich ein Geräusch vernehmen, als wäre ein Stuhl gefallen, und die Thüre öffnete sich um eine schmale Spalte.

„Seht her, frommer Vater,“ rief Herr Waze mit gepreßter Stimme, „seht her, was mein Rimiger


Zeitvertreib.
Nach einem Gemälde von C. Reichert.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_325.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2023)