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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

neun Jahren im offenen Thor; das Kind hatte verweinte Augen, und zögernd schlich es zum Apfelbaum. „Gobl-Ähni!“ Das lispelnde Stimmlein weckte den Schläfer nicht. „Gobl-Ähni!“ Schüchtern griff das Kind nach der Lodenkotze des Schlummernden und zupfte. Da erwachte der Greis, halb richtete er sich auf und hob die müden Augen. „Was willst?“

„Ich such’ den Huzebuben!“ stotterte das Dirnlein unter rinnenden Zähren. „Hast ihn nicht gesehen?“

„Was geht mich der Bub’ an!“ murrte der Alte. „Lauf’ hinauf in Wazemanns Haus und frag’! Laß mich schlafen ... und schau’, daß Du weiter kommst!“ Er streckte sich wieder hin.

Eine Weile noch stand das Kind, stumm und zitternd, dann verließ es schluchzend die Hofreut. Seufzend drehte sich der Greis auf die Seite. Da hörte er Schritte hinter dem Baum, blickte auf und gewahrte den Mönch. Weder Neugier noch Staunen sprach aus seinem Blick, nur ein mattes Lächeln ging über seine Lippen.

„Dein Haar ist weiß, und bei dem Alter sollte die Milde wohnen,“ sagte Eberwein, „aber Dein Herz ist hart. Du hast übel geredet mit diesem Kind. Fürchtest Du nicht, daß Dich einer straft, der die Thränen der Kinder zählt?“

„Fürchten?“ lächelte Gobl. „Es giebt keinen, den ich fürcht’ ... nur einen noch, auf den ich wart’! Zu mir kommt er heut’ oder morgen, zu Dir ein andermal. Zu allen kommt er, denn alle hat er lieb wie der gute Hirt seine Geißen ... laß sie nur laufen, wohin sie mögen, einer jeden steigt er nach, einer jeden bringt er das Mied zum guten Heimweg in den kühlen Stall!“

In tiefer Bewegung beugte Eberwein das Knie und faßte die Hand des Greises. „Du rufst den Tod ... ich aber will Dich zu Jenem führen, der das Leben ist.“

Da lachte Gobl. „Den kenn’ ich nicht! Und wüßt’ ich auch, wo er hauset ... ich thät’ keinen Schritt nach ihm. Das Leben noch suchen, wo ich doch wart’ auf das Stündl, das mich erlöst von ihm!“

„Mensch, wie redest Du? Glimmt in Deinem Herzen kein Funke der Liebe mehr? Denkst Du nicht Deiner Kinder?“

Mit starrem Blick hafteten die halb erloschenen Augen des Greises auf Eberwein. „Schau’ mein Haus an, dort liegt’s! Such’ meine Kinder ... wo die liegen, weiß ich nicht. Drei Buben hab’ ich gehabt, gewachsen wie Bäum’ – den einen hat die Lahn geschlungen, den anderen haben die Wölf’ gefressen, und den letzten hat der Teufel geholt, der Wazemann heißt! Eine Dirn’ hab’ ich gehabt, lichtscheinig und gut“ ... Gobl ballte die Fäuste, und seine Stimme wurde zum Keuchen „frag’ beim Henning an, wo meine Heilka geblieben ist! Zur Windach ist sie gelaufen ... heimgekommen aber ist sie nimmer, und nur Hennings Bub’ ist noch übrig von ihr.“ Zitternd an allen Gliedern hob der Greis sich auf die Füße. „Wo haust er denn der Deinig’, der das Leben ist? Sell oder sell?“ Er deutete mit zuckenden Armen. „Sag’ mir’s, daß ich’s weiß – oder ich könnt’ am End’ den Weg verfehlen, den ich such’, den Weg nach der anderen Seit’!“

In die Stille, welche diesen Worten folgte, klang vom Hagthor her das Schluchzen des Kindes. Eberwein stand auf und ging dem Greise nach bis zu den Trümmern des Hauses. „Schwere Not hast Du erfahren, Unheil und Unrecht sind über Dein Herz gefallen wie die Wölfe über das Lamm. Und ich sage Dir doch ...“

Da fiel ihm Gobl ins Wort: „Hörst denn nicht: sell draußen weint das Kind! Mein Herz wär’ hart? Hast recht! Aber das Deinig’ ist härter noch. Mich laß in Ruh’, mir hilft keiner mehr als der einzig’, auf den ich wart’. Aber dem Kind da draußen kannst ein Wort sagen, das einen Trost hat. So thu’s doch! Ich mein’, das wär’ gescheiter, als daß Du mich um den Schlaf bringst, in dem ich ein leichteres Warten hab’!“ Der Greis wandte sich ab, zog aus dem Wust der Trümmer ein zerschmettertes Stücklein Hausrat hervor, betrachtete es von allen Seiten und ließ es wieder fallen.

Eberwein stand in schwerem Kampfe. Heißes Erbarmen hielt ihn fest an der Seite des Greises, und tiefes Mitleid trieb ihn zu dem Kinde. Wer war der Hilfe bedürftiger? Dieser sinkende Stamm oder jenes zitternde Stäudlein, dem der erste Schmerz an die Wurzel seines jungen Lebens rührte? Mit feuchten Augen blickte er dem Greise nach, der ihm den Rücken kehrte, unter dem Apfelbaum sich niederstreckte in das Kraut und das Gesicht in den Armen barg. „Schlafe nur! Einer wird kommen und wird Dich wecken! Noch lebst Du, und wie die Schmerzen des Lebens nimmer enden, so enden auch nimmer seine Freuden. Ich seh’ es kommen, daß Du den Tod, den Du so heiß gerufen, mit Stammeln und Zähren bitten wirst: warte noch ein Weilchen, laß mir nur dieses letzte Stündlein noch! Dann wirst Du Jenen suchen, der das Leben ist!“

Der alte Gobl lachte, ohne das Gesicht zu heben; aber sein Lachen klang, als wär’ es Schluchzen.

Eberwein hatte nicht weit zu gehen; nah vor dem Hagthor, im Schatten eines welkenden Dornstrauchs, fand er das weinende Kind. Er setzte sich an die Seite des Dirnleins und umschlang es mit den Armen. Das Kind hob die nassen Augen, starrte erschrocken auf den fremden Mann im schwarzen Kleid, dann ließ es das Köpflein wieder sinken und weinte noch lauter.

„Sag’ mir, Kindlein, warum weinst Du?“

„Um meinen Huzebuben muß ich weinen.“

„Wer ist denn Dein Huzebub’?“

„Ach, so ein lieber guter Bub’! Meinem Vater hat er die Geißen gehütet hinter dem Eismann droben. Und all’ Woch’ hab’ ich mich gefreut, bis er heimgekommen ist. Blümlein hat er mir alleweil gebracht und die schönsten Farbstein’, rot und grün und gelb ... und auf den Abend alleweil ist er bei mir gesessen und hat mir Liedlein gesungen und hat gehäuselt mit mir ...“ Die Worte des Kindes erstickten in bitterlichem Schluchzen.

Eberwein hob das Dirnlein auf seinen Schoß und stellte Frage um Frage. Als er hörte, welch’ einer grausamen Strafe der arme Bub’ verfallen war, stieg ihm dunkle Röte in die Stirn. Das Kind zur Erde stellend, sprang er auf, und seine blitzenden Augen suchten in der Ferne den Falkenstein. „Herr Waze,“ rief er und hob die Faust, „das soll Deiner Sünden Abend sein!“ Und zu dem Kinde sich wendend, sagte er: „Ich löse Deinen Spielgesellen und kehre nicht heim aus Wazemanns Haus, ohne daß ich an meiner Hand den Knaben führe.“ Unter Zähren starrte das Kind zu ihm auf; es verstand den Sinn seiner Worte nicht und hörte nur seinen Zorn, vor dem es erschrak. Da beugte sich Eberwein nieder, streichelte dem Kinde das Haar und flüsterte: „Mußt nimmer weinen, Dirnlein, ich bring’ Dir Deinen Huzebuben.“

Es ging wie Sonnenschein über das Gesicht des Kindes. „Aber gelt, recht bald? Und thu’ ihn nur gleich grüßen von mir!“

„Ja, mein Dirnlein, das will ich nicht vergessen.“

Eberwein küßte das Kind, dann faßte er seinen Stab und wanderte seewärts. Als nach einer Weile der Pfad sich teilte und Eberwein zögernd stehen blieb, klang hinter ihm ein dünnes Stimmleine „Sell hin geht’s, Herre, sell hin!“ Das Kind war ihm nachgelaufen und wies ihm nun den Weg. Eberwein ließ das Dirnlein zu sich herankommen und redete ihm zu, nach Hause zu gehen, das Kind nickte wohl und blieb zurück, doch es währte nicht lange, so hörte er hinter sich schon wieder die trippelnden Schrittlein; wenn er sich umblickte, blieb das Dirnlein stehen – schritt er weiter, so lief es hinter ihm her. Als er die Achenbrücke erreichte und wieder die Augen wandte, sah er das Kind nicht mehr.

Auf dem Reitweg kam einer von Wazemanns Knechten herabgestiegen; die Erinnerung an Bruder Wampo machte ihn lachen, als er den Mönch gewahrte; aber das Lachen verging ihm, da er in Eberweins Augen sah. An der Kleidung erkannte Eberwein den Troßknecht. „Führt dieser Weg zu Deines Herren Haus?“

„Wohl wohl!“ sagte der Knecht und griff mit zögernder Hand nach der Kappe. Scheu blickte er dem Mönche nach und that, als Eberwein zwischen den Bäumen verschwand, einen leisen Pfiff vor sich hin. Hastig verließ er den Reitweg, rannte quer durch den Wald, dem nahen Felsenpfad entgegen und sprang über die steilen Stufen empor. Mit der Faust schlug er an das Pförtlein. Als ihm aufgethan wurde, fragte er keuchend: „Wo ist der Herr?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, rannte er über den Hof, an dem Gesind’ vorüber, welches mit dem erlegten Wild beschäftigt war, das Herr Waze und seine Buben von glücklicher Jagd nach Hause gebracht. „Herr, Herr!“ schrie der Knecht, noch auf der Freitreppe, und stolperte über die Schwelle.

(Fortsetzung folgt.)




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