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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Not, und da war ihr der Glaube gar leicht geworden, der den lieben Gott im Himmel walten und daneben den Teufel bestehen ließ, bei starker Hilfe wider seine üblen Künste. Ein Stündlein hatte Bruder Wampo reden müssen, um die Angst aus diesem zitternden Kind zu lösen. Vielleicht wäre ihm diese Liebesmühe rascher und leichter gelungen, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, zu erzählen: „Ich habe gebadet im See ...“ Da hätte wohl Rötli hellauf gelacht, und vielleicht hätte sie für kommende Zeiten die Lehre gewonnen, daß es um so manche Furcht des Lebens bestellt ist wie um den Bid des Ruedlieb: blick’ hin mit verwirrten Sinnen, und Schreck und Grauen erfaßt Dich ... blick’ hin mit klarem, sehendem Aug’ und die Posse macht Dich lachen!




21.

Auf beschwerlichem Pfade wanderte Eberwein, von Mätzel geführt, durch dichtverwachsenen schattendunklen Fichtenwald. Sein Gesicht war bleich, seine Augen hingen mit verlorenem Blick an der Erde, und manchmal bewegten sich seine Lippen wie in raunendem Selbstgespräch. Er hörte das dumpfe Rauschen nicht, das ihm durch den Wald entgegenscholl, und blickte erst auf, als er den aus einem mächtigen Baumstamm gebildeten Steg erreichte, welcher die Schlucht der Windach überspannte. Ein eiskalter Luftstrom fuhr ihm entgegen und peitschte sein Gewand. Mätzel hatte den Steg betreten, dem eine morsche Stange als Geländer diente; mitten auf dem Balken blieb sie stehen und deutete in die Tiefe der Schlucht. Eberwein sah, daß ihre Lippen sich bewegten – sie schien ihm etwas sagen zu wollen – doch das Rauschen und Brausen, welches aus der Tiefe quoll, verschlang den Hall ihrer Stimme. Zögernd betrat Eberwein den Balken, welcher zitterte und schwankte wie ein Mühlbrett über den Mahlsteinen. Steil und wirr geklüftet, stürzten vor seinem Blick die Felsen niederwärts, Wasser rann und sickerte über alles Gestein, in mächtigen Fetzen, noch von Wurzeln durchflochten, hing die zerrissene Erde über alle Kanten der Felsen, auf allen Seiten bröckelte und kollerte das Erdreich. Gewaltige Felsblöcke hingen eingekeilt zwischen den Wänden der Schlucht, in deren grauem Zwielicht der weißschäumende Wildbach hauste wie ein gefesselter, in seinen Banden tobender Riese. Aus dem Brausen und Rauschen klang noch das dumpfe Poltern des Gesteins, welches der Bach auf seinem Grund wälzte und zerrieb, und bis zur Höhe des Steges sprühte der kalte Wasserstaub, an Eberweins Antlitz hauchend wie der eisige Atem der Vernichtung.

Wieder deutete Mätzel unter kreischenden Worten in die Tiefe. So laut die Magd auch schrie – Eberwein verstand sie nicht. Und dennoch schien er zu wissen, was sie sagen wollte. Seine Hände griffen nach dem schwankenden Geländer, als befiele ein Grauen seine Sinne, und aus gepreßtem Herzen schrie er auf: „Aus den Schrecken dieser Tiefe, aus diesem Höllenrachen hat ihn Gott gehoben mit barmherziger Hand! Und ich soll ihn stürzen in Jammer, der noch tiefer ist und grauenvoller? Was Eid und Pflicht mir gebieten ... ist es nicht wider Gott?“ Als könnte er den Anblick der finsteren Tiefe nicht länger ertragen, so legte er die eine Hand über die Augen und mit der anderen am Geländer sich weitertastend, verließ er den Steg.

Erschrocken, mit glotzenden Blicken, starrte die Magd ihn an; und kaum vermochte sie ihm zu folgen, so hastig eilte er auf dem steinigen Pfad dahin. In jedem Zug seines Gesichtes spiegelte sich der Kampf, der seine Seele stürmisch erfüllte. Geschah es doch zum erstenmal, daß sein Herz in schreienden Widerspruch geriet mit den Gesetzen der Kirche, deren treuester Sohn er allezeit gewesen. Zwiespalt war jeder Gedanke, den er dachte, Pein und Marter jede Regung, die er empfand. Wie sollte er sich lösen aus diesem Streit? Wie sollte er das Rechte finden? Waren diese beiden Menschen, Mann und Weib, ihm nicht entgegengetreten – zwei Körper und doch eine Seele nur, und diese Seele rein und fromm, gläubig und liebreich, ein Wohlgefallen für Gottes Augen? Wie zwei treue Gärtner des Himmels waren sie Hand in Hand durch ein langes Leben gewandert, und kein Tag war ihnen vergangen, an dem sie nicht den Samen des Guten ausgestreut, nicht ein Flecklein steinigen Grundes gewandelt hatten in fruchtbares Erdreich! Welch’ eine Ehe ward im Himmel geschlossen, wenn nicht diese? Mußte ihm diese Ehe nicht erscheinen wie die lautere Erfüllung aller edelsten Bestimmung menschlichen Lebens, mehr noch: wie reiner Gottesdienst? ... Aber sein Eid! Seine Pflicht! Wie Glut aus der Asche bricht, so tauchte immer wieder, wenn seine Gedanken ruhiger wurden, diese brennende Mahnung in ihm auf. Streng und unerbittlich lautete das Gesetz der Kirche, das er beschworen bei seiner Weihe und zum andernmal bei seinem Auszug nach dem Land, in welchem er walten und richten sollte als Kirchenfürst. Daß jene Ehe rein war, fromm und heilig, daß diese beiden Menschen nach einem fast schon vollendeten Leben nicht mehr zu zählen waren als Mann und Weib, nur noch als Bruder und Schwester im weißen Haar – solche Ausnahme kannte das Gesetz nicht. Streng und ehern klangen seine Worte: jeder beweibte Priester ist verlustig seines Amts und seiner Pfründe; jeder beweibte Priester, der die Sakramente verwaltet, jeder Laie, der aus eines solchen Priesters Hand das Sakrament empfängt, verfällt dem Bann und ewiger Verdammnis!

„Das Gesetz ist wider mein Herz! Wie soll ich wählen? Wer weiset mich?“

Da ging der Wald zu Ende, und vor Eberweins verstörten Blicken lag hügeliges Weideland, eine Halde der Schönau. Von der Höhe eines Hügels tönte eine freundlich klingende Stimme: ein junger Hirte lockte seine Schafe, er griff in die Ledertasche und bot den Tieren, die ihn umdrängten, mit vollen Händen das Mied. Der Hirt verschwand mit seiner kleinen Herde ... für Eberweins Augen aber war der Hügel nicht leer. Vor seinen Blicken stieg es auf wie ein Gesicht: die dunklen Wogen der Wälder erschienen ihm wie ein weitgedehntes Meer, der niedere Hügel verwandelte sich in ragenden Berg, Tausende von Männern, Weibern und Kindern waren auf dem Hang gelagert, und auf der Höhe des Berges sah er den „Mildesten der Menschen“ stehen, im Kreise seiner Jünger, umflossen von einem Schimmer der Verklärung, und weithin klangen mit sanfter glockenweicher Stimme die Worte der Bergpredigt: „Ich sage Euch, wenn Eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet Ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Wie Erleuchtung drang die Mahnung dieser Worte in Eberweins Seele; er atmete tief und strich mit der Hand über die Augen. Und lächelnd, erlöst von allem Sturm seines Herzens, blickte er hinaus in das sonnige Thal. Rings um seine Füße standen die Heideblumen noch in später Blüte, und das silberige Laub einer einsamen Birke flüsterte im leisen Wind. Vom Stamm des Baumes löste Eberwein ein Stück der Rinde und ritzte auf das weiße Blatt mit spitzigem Stein die Worte: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden!“

Er pflückte von den Blumen, wickelte das Birkenblatt um das Sträußlein und band es fest mit langer Schmehle. Mätzel sah zu mit aufgerissenen Augen. Er reichte ihr die Blumen und sagte: „Bringe sie Deiner guten Herrin und sag’ ihr, daß ich mit Sehnsncht der Stunde harre, in der ich wieder weilen darf an ihrem freundlichen Herd. Ich komme, wenn die Woche vergangen ist ... nein, gute Mätzel, sage nur: morgen, schon morgen!“

Die Magd verstand nur halb, eines aber fühlte sie: es war gute Botschaft, welche sie tragen durfte. Röte und Blässe wechselten auf ihrem häßlichen Gesicht, das Wasser schoß ihr in die Augen, mit zuckender Hand, wie ein Falk seine Beute greift, haschte sie das Sträußlein und rannte davon. Eberwein blickte ihr lächelnd nach, bis sie im Wald verschwunden war. Dann wanderte er über die Halden und erreichte auf bewaldetem Hügel einen halb zerfallenen Hag. Er sah das offene Thor – und es wurde nicht geschlossen, als er sich näherte. Erschrocken aber verhielt er den Fuß, da er die traurige Verwüstung gewahrte, welche der morsche Hag umschloß: die Reste der niedergebrannten Scheune, die Trümmer des gestürzten Hauses und den von Unkraut überwucherten Garten. Im spärlichen Schatten eines Apfelbaumes sah er einen schlafenden Greis auf der Erde liegen, das Gesicht in die Arme vergraben; er wollte nähertreten, doch der üble Geruch, der den Hofraum erfüllte, benahm ihm fast den Atem. Ein sumsender Fliegenschwarm lenkte seine Blicke auf die halbverweste Ziege, deren Aasgeruch die Luft verpestete. Unter dem Gerümpel, welches im Unkraut umherlag, gewahrte er einen Spaten. Er hob ihn auf, schritt an dem schlafenden Greis vorüber, und seinen Ekel überwindend, schaufelte er in einem Winkel der Hofreut eine Grube und versenkte den Leichnam des Tieres. Während er die Grube wieder mit Erde füllte, erschien ein Dirnlein von etwa

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_296.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2020)