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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

welche die Sonne durch die Laubmassen warf; kein Hälmchen war umgebogen, keine Blume welk oder geknickt.

Ilse seufzte tief auf. „Mir ist das gar nicht recht,“ wandte sie sich an ihren Vater. „Wie gern würde ich selbst etwas für Mamas Grab thun, es wäre so schon, es zu pflegen, zu schmücken! Komme ich aber hierher, so finde ich alles gethan, kaum entdecke ich ein kleines Plätzchen für meine Blumen, die ich bei uns im Gärtchen ziehe.“ Mit vorsichtiger Hand bog sie da und dort einen Zweig zur Seite, um Raum für eine blaßgelbe selbstgezogene Marschall Nielrose zu gewinnen, die sie mitgebracht hatte.

„Möchtest Du nicht einen Kranz von diesen wilden Blumen für das Grab flechten?“ fragte Doßberg und deutete auf die Maßliebchen und Glockenblumen, die in überreicher Fülle auf den Grasflächen wucherten. „Mama hatte gerade diese Blumen so besonders gern!“

Ilse nickte und machte sich sofort emsig ans Pflücken. Dann setzte sie sich, den Schoß voller Blumen, auf die neben dem Grabe stehende Bank und begann ihr Werk, während der Baron neben ihr Platz nahm und mit trübem Blick auf die geschäftigen weißen Hände sah.

Hinter dem dichten Wall der Kastanien und Linden ging das Gitter hin, welches den Park von der Landstraße schied – die Familiengruft lag ganz am Ende des Parkes. Wer besonders aufmerksam von der Straße hereinspähte, der konnte immerhin die innerhalb des umfriedigten Raumes Befindlichen unterscheiden. Nach einer guten Weile – der Kranz, den Ilse flocht, war etwa zur Hälfte fertig – hörten die beiden, die in Gedanken versunken dasaßen, eine wohlbekannte Stimme mit breitem Accent. „Herr Baron! Ich irr’ mich doch wohl nicht, und Sie sitzen da drin. Können Sie denn nicht ’mal ’n hißchen durchs kleine Gitterthor zu mir ’raus kommen?“

Doßberg lächelte. „Das ist Hinz! Wie wär’s, alter Freund,“ fügte er mit erhobener Stimme hinzu. „wenn ich Ihnen das kleine Gitterthor aufmachte, und Sie kämen zu mir herein?“

„Kann ich nicht, Herr Baron! Hilft zu gar nichts! ’s ist nicht ’was zu erzählen, was ich hab’ .... ’was zu zeigen ist es. Herr Baron müssen man selbst kommen und sich die Bescherung ansehen. Bei der Sommerung an der Belter Grenz’, da ist ’was passiert! Ich hab’ gesagt, sie sollen da wegen dem Regen Faschinen legen, damit uns der Boden da nicht mir nichts dir nichts fortgespült werden kann, und der Herr Baron haben ’s auch gesagt ... aber nu haben sie das so hingemuddelt und haben sich gedacht: I, das hat ja noch Zeit, und dies ist nötiger und jenes ist nötiger ... na ja, aber der letzte Gewitterregen, den wir hatten, der hat danach nicht gefragt und hat die ganze Geschichte unterspült und ’n gutes Stück weggerissen oben am Berg, und nu haben wir die Pastete!“

„Ich komme sofort!“ Baron Doßberg hatte sich schon erhoben. „Ich bin bald wieder zurück, Kind, Du weißt ja, das ist kein weiter Weg! Willst Du hier bleiben und auf mich warten?“

„Ich denke, ja, Papa! Der Abend ist wundervoll, und mein Kranz ist nicht so bald fertig.“

„Schön! Ich hole Dich also hier wieder ab.“ Doßberg ging zu der kleinen Gitterpforte, die sich von innen öffnen ließ, und verschwand mit Hinz. Die Thür blieb angelehnt.

Die Sonne sank tiefer und tiefer und warf purpurne Streifen durch die Bäume. Die Goldbuchstaben auf dem weißen Marmorkreuz glühten auf, sehnsuchtsvoll schlug die Nachtigall im nahen Busch. Goldener Abendfrieden lag träumerisch auf dem stillen Fleckchen Erde, wo die Toten ausruhten von des Lebens Kampf und Mühsal, und in dem jungen, bis vor kurzem noch so lebensfrohen Herzen Ilse von Doßbergs wachte die Sehnsucht auf, auch so leidlos und traumlos zu schlummern wie die da unten ...

Sie erschrak, als sich jetzt in ihrer Nähe Hufschlag vernehmen ließ; durch die Lücken im Gebüsch sah sie einen Reiter herankommen und wußte sofort, wer es war. Sie rührte sich nicht – Herr von Montrose würde sie hier nicht vermuten, nicht entdecken – und während sie dies dachte, vernahm sie seinen Pfiff, sah einen Schatten geschwind am Gitter hinlaufen und hörte einen Befehl erteilen, dann klang die kleine Pforte und Herr von Montrose kam rasch auf sie zu. Sein Gesicht war nicht so kühl und blaß wie sonst – vermutlich hatte es einen harten Strauß mit „Mazeppa“ abgesetzt. Der englische Reitanzug kleidete ihn gut und ließ seine Gestalt auffallend geschmeidig und schlank erscheinen; in den Augen lebte ein ihnen sonst fremder Ausdruck von Entschlossenheit.

Ilse neigte zu seinem Gruß stumm den Kopf, ihre Hand, welche die blauen Glockenblumen auf ihren Knien zerwühlte, streckte sich ihm nicht zum Gruß entgegen.

„Ich bin dem Schicksal sehr dankbar, daß es mir endlich dies Zusammentreffen mit Ihnen gönnt,“ begann Montrose. „O, ich weiß schon, was Sie sagen wollen, Baroneß“ – Ilse hatte eine Bewegung gemacht, als ob sie ihn unterbrechen wollte – „Sie meinen, wir hätten einander häufig genug gesehen. Aber das geschah nie ohne Zeugen. Ich habe mich hundertmal bemüht, Sie allein zu treffen, es ist mir nie gelungen. Jetzt eben traf ich Ihren Vater mit dem alten Inspektor drüben an der Belter Grenze, und da ich nach Ihnen fragte, mußte er mir sagen, daß Sie hier wären. Sie können mir nun nicht mehr ausweichen!“

Nein, sie konnte nicht – und sie wollte es auch nicht. Sie wußte, was kommen würde – aber einmal mußte es ja sein, und wenn sie es dann endlich überwunden hatte, dann mußte auch diese unerträgliche Bangigkeit von ihr weichen, sie mußte ihr früheres Selbst, das zielbewußte unbefangene Wesen wiedergewinnen. Mochte er denn sprechen!

„Wollen Sie Platz nehmen?“ fragte sie und rückte ein wenig zur Seite. Diese höfliche Frage in ihrer nüchternen Förmlichkeit that ihr ordentlich wohl.

Montrose setzte sich und sah Ilse unverwandt ins Gesicht. Sie wollte den Blick nicht erwidern, aber sie konnte nicht anders.

„Sie mußten es schon damals im Winter bei dem Fest im Schloß wissen, daß ich Ihnen Wichtiges zu sagen hätte, Baroneß – mir schwebte eine Erklärung auf den Lippen. Nur widerstand es mir, sie Ihnen mitten im Lärm eines Festes, im Kreise so vieler fremder Menschen zu geben. Dann kam der Tod Ihrer Mutter – ich wünschte, Ihren Schmerz zu ehren, Ihnen Zeit zu lassen, die erste Heiligkeit des Kummers zu überwinden – so bezwang ich mich denn, aber es wurde mir unsagbar schwer.“

In die eingetretene Pause schallte der werbende Gesang einer Nachtigall in unmittelbarster Nähe, sehnsüchtig und klagend.

„Was ich Ihnen zu sagen habe, Baroneß, wird Ihnen eine ungeheuere Vermessenheit scheinen, und dennoch muß ich sprechen, weil ich nicht anders kann, weil ich in Ihren Augen gelesen habe, daß Sie Teilnahme für mich haben, Mitgefühl! Lassen Sie sich’s nicht gereuen, mir das gezeigt zu haben – ich hoffe dessen nicht ganz unwert zu sein. Mitgefühl! Ich hab’ es von so wenigen Menschen begehrt, ja ich hab’ es immer abgewiesen – ich bin stolz, ich wollte es nicht ... bei Ihnen hat’s mich beseligt, so wie Sie sind, wie ich Sie kenne. Das Mitgefühl ist im Herzen einer Frau die goldene Stufe, auf der sich später vielleicht ein Höheres, Schöneres erhebt – und weil ich dies in Ihrem Blick sah, darum meine Vermessenheit!“

Montrose stockte, er faßte Ilses Rechte und drückte seine bebenden Lippen darauf, wieder und wieder, bis sie ihm die Hand entzog.

„Ich bin sehr arm bis jetzt durchs Leben gegangen, Ilse, – bettelarm! Das hab’ ich bisher noch keinem gestanden. Ich bin eine ehrgeizige Natur gewesen – schon in früher Kindheit hat sich das gezeigt. Als mir meine Laufbahn, in die ich mit den kühnsten Plänen eingetreten war, zerschlagen wurde, als mein Name in den Staub getreten war – vielleicht haben Sie gehört, durch wen – da hab’ ich mir das Leben nehmen wollen, und als das mißlang, blieb ich jahrelang so menschenscheu, daß ich nur bei Nacht, wenn alles schlief, mein Zimmer verließ und mich im Freien erging. Diese ‚Freiheit‘ war ein großer Anstaltsgarten, in welchem ich aufs sorgsamste überwacht wurde – ich hätte ja wieder Hand an mich legen und mein kostbares Dasein gefährden können! Als ich dann endlich als ‚geheilt‘ entlassen wurde, war mein Wille wieder erstarkt – meine Seele war krank geblieben. Ich ließ mich weit fortschicken, dorthin, wo kein Mensch meinen Namen kannte, mein Schicksal wußte. Und da der Ehrgeiz nun einmal die Triebfeder meines Handelns war, so setzte ich in meiner neuen Umgebung alles daran, ein tüchtiger Geschäftsmann zu werden, und das gelang mir. Es gewährte mir eine Art von Genugthuung, zu sehen, wie meine kühnsten Pläne einschlugen, wie meine Unternehmungen sich weiter und weiter ausbreiteten, mein Name in der neuen Welt, die ich mir geschaffen, einen immer bessern Klang gewann. Was sonst mit mir wurde, war mir gleichgültig, so gleichgültig, daß ich mich sogar ohne weiteres

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