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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Einsilbigkeit auch seiner Tochter von dem schönen Tier erzählt, mit dem Zusatz, Herr von Montrose sei merkwürdigerweise ein tollkühner Reiter, zwar sehr geübt und sicher in der Hand wie im Sitz, aber doch eben waghalsig, und er, Doßberg, könne sich nie eines gewissen Bangens erwehren, sobald Montrose an „Mazeppa“ seine Erziehungskünste versuche.

Auch heute, an einem lauen feuchtwarmen Maiabend, hatte Philipp vor der Rampe des Schlosses den Goldfuchs am Zügel. Der erfahrene Kutscher, dem das teuere und seltene Pferd zu besonderer Pflege anvertraut war, sprach beruhigend in „Mazeppa“ hinein, hauchte ihm in die Nüstern, klopfte ihm den spiegelblanken Hals und „machte ihm die Cour,“ wie er es selbst lachend nannte. Der Fuchs ließ sich das alles gnädig gefallen, er rieb seine schlanke Nase vertraulich an Philipps Schulter und scharrte mit dem zierlichen Vorderhuf graziös im Sande, aber dabei schielte er argwöhnisch seitwärts. Da! Eine Thür klang – „Mazeppa“ warf den Kopf herum und biß in die Kinnkette, daß der Schaum herabtroff, während Philipp ihm nach Kräften schmeichelte. Herr von Montrose kam die Freitreppe herunter, die Reitpeitsche unter den Arm geklemmt. Er hielt dem Pferd ein Stück Zucker hin und noch eines – dieses zerbiß die willkommene Gabe, ließ aber keine Sekunde davon ab, den Geber aus dem Augenwinkel zu beobachten. Sowie dann Montrose den Fuß hob, um in den Bügel zu kommen, machte der Fuchs eine drehende Bewegung, versuchte zu steigen und feuerte dann hinten aus, daß Kies und Funken den Nächststehenden nur so um die Ohren spritzten.

Herr von Montrose lächelte und Philipp auch; die übrigen Zuschauer sahen besorgt aus. „Mazeppa“ fuhr fort, sich wie ein Tänzer zu drehen und den Kopf zu werfen, dadurch verlor er aber den Vorteil des Beobachtens, und dieser Umstand wurde selbstverständlich benutzt. Herr von Montrose folgte jeder Bewegung des aufgeregten Tieres mit achtsamem Auge – ein Ruck, und er hatte den Fuß im Steigbügel und war in der nächsten Sekunde im Sattel. Philipp ließ los – und wie ein Wetter stob das Pferd davon. Philipp sah der wilden Jagd nach und nickte beifällig.

„Meinen Sie, er bleibt oben, Philipp?“ fragte der Obergärtner zweifelnd.

„Na und ob! Dem passiert nichts! Was der für’n Sitz hat und für Schenkel und Hände! Sieht ihm kein Mensch an! Wenn der Herr in den Sattel kommt, ist er mit eins seine zwanzig Jahre jünger.“

Drüben an einem Fenster des Verwalterhauses stand Baron Doßberg mit Ilse. Sie hatten die ganze Scene mit angesehen. Ilses Arm lehnte gegen ihres Vaters Schulter, und er fühlte zu seinem Staunen, daß dieser Arm leise zitterte. Er sah ihr ins Gesicht, das einen erschöpften ängstlichen Ausdruck trug. „Kind, hat Dich der Anblick aufgeregt?“ fragte er besorgt und zog das feine Köpfchen an seine Brust

„Es – es sah doch so bedenklich aus!“

„Ja, der ‚Mazeppa‘ ist ’ne eigenwillige Kreatur, aber Montrose ist ihm schon gewachsen – es wäre nur gut, wenn er nicht so tollkühn sein wollte. Der Mann wird buchstäblich ein anderer Mensch, sobald er zu Pferde sitzt. Hat er das Tier erst einmal gemeistert, dann unternimmt er ein Wagestück um das andere. Es reize ihn unwiderstehlich, hat er mir selbst gesagt, und als ich ihm erwiderte, wie leicht er dabei verunglücken könnte, meinte er, das glaube er nicht, schon darum nicht, weil niemand da sei, ihn zu betrauern. Für den Vater zweier Kinder ein merkwürdiger Ausspruch!“

Ilse wandte ihr Gesicht weg. „Kommst Du mit in den Park, Papa? Wir können ja jetzt hinein. Fräulein von Montrose ist zu Röstems hinübergefahren.“

„Hat sie Dich nicht aufgefordert, sie dorthin zu begleiten, da sie doch um unsere alte Freundschaft zu den Röstems weiß?“

„Nein. Wir sehen einander fast nie, Clémence und ich, und wenn es geschieht, dann tauschen wir nur einen steifen Gruß. Es ist nicht meine Schuld, daß wir uns so feindlich gegenüberstehen.“

„Und die Ursache ihres Benehmens, Kind?“

„Ich glaube, den Grund zu kennen, habe aber alles gethan, was in meinen Kräften stand, ihrem Argwohn keine Nahrung weiter zu geben.“

Ilse begegnete ihres Vaters forschendem Blick und schlug dann rasch die Augen nieder. „Können wir gehen?“ fragte sie hastig und unvermittelt. „Darf ich mir meinen Hut holen?“

Er nickte, und einige Minuten später schritten Vater und Tochter Arm in Arm die wohlbekannte breite Lindenallee hinab, die den Eingang in den Park bildete. Sie gingen eine Weile stumm nebeneinander her. Ilse dachte an Albrecht Kamphausen, dessen Bild fern, fern vor ihr dahinschwebte, unerreichbar wie eine Fata Morgana; sie rief sich ihr kurzes flüchtiges Liebesglück zurück und berechnete wieder – zum wievielten Mal schon! – wie lange, wie unbegreiflich lange sie nichts mehr von ihm gehört. Onkel Leupold hatte sie ihrer Angst wegen gescholten und auch getröstet, anfangs zuversichtlich und nachdrücklich, nach und nach immer kleinlauter und mit abnehmender Uberzeugungskraft. Er mußte zugeben, es sei sonderbar, daß so lange keine Nachricht komme und daß überhaupt jede Kunde über den Verbleib der „Nixe“ fehle. Ach, die langen lichtlosen Winternächte, wenn der Sturm heulend um das Haus flog und wie mit Geisterhänden an die Fensterläden klopfte ... wie oft sie da mit leisem Aufschrei aus dem Schlaf erwacht war und sich zitternd aufgesetzt hatte, um zu lauschen! Und immer sah sie das Schiff, wie es, vom Sturm gejagt, über die tobenden Wassermassen flog, die Segel in Fetzen, die Masten geknickt – und ihn auf der Kommandobrücke, bleich und ernst, den Tod vor Augen ... ihn, an den ihre geängstigte Seele sich klammerte wie an einen letzten Rettungsanker, der sie schützen sollte gegen all die dunkeln Mächte, die in ihrer Seele rangen. Ach, nur Nachricht, Nachricht von Albrecht, und wenn es bloß eine Zeile gewesen wäre, damit sie aufatmen, dies drückende Geheimnis von ihrer Seele wälzen und ihrem Vater endlich sagen konnte, wie es um sie stand. Die zarte schwache Mutter hatte es nicht erfahren dürfen, daß ihre Ilse die Braut eines ihr unbekannten Seemanns ohne Vermögen war, und unmittelbar nach ihrem Tode hatte Ilse auch den Vater schonen wollen. Jetzt aber, wo sie fest entschlossen war, zu sprechen, jetzt, da seit dem Heimgang der Mutter fünf volle Monate verflossen waren, jetzt wußte sie nicht einmal, ob Albrecht lebe – wie konnte sie da ihr Geheimnis preisgeben!

Sie fuhren beide, Vater und Tochter, wie aus einem Traum empor, als einer der Bedienten vom Schloß ihnen entgegenkam und ehrerbietig grüßte. Mit einem Schlage waren sie in die Gegenwart zurückversetzt.

„Es wäre mir lieb, Ilse,“ begann Doßberg nach einer kleinen Pause zögernd, mit sichtlicher Anstrengung, „es wäre mir lieb, wenn Du trachten wolltest, das gespannte Verhältnis zwischen Dir und Clémence von Montrose nicht zu verschlimmern, ja wenn irgend thunlich, zu verbessern. Ich weiß wohl, daß Herr von Montrose wenig Gewicht auf die Meinung seiner Tochter legt, dennoch könnte er jetzt, da er ihre Verlobung aufgelöst hat und offenbar Mitleid mit ihr empfindet, eher dazu geneigt sein als sonst, und das würde vielleicht nicht ohne Einfluß auf meine Stellung sein. Du bist mein geliebtes Kind und thust alles, mir das Dasein erträglich zu machen – aber seit Deiner Mutter Tod bin ich ein gebrochener Mann, und ich denke, ich lebe nur darum noch, weil ich mich um die ‚Perle‘ bemühen, weil ich die Luft meiner Heimat atmen darf!“

Die Lippen zitterten ihm, er war außer stande, mehr zu sagen. Ilse sah ihn von der Seite an, ihr schmolz das Herz in Liebe und Mitleid. Wie alt er geworden war, wie weiß sein Haar, wie gebeugt seine Haltung! War dieser in sich zusammengesunkene Mann ihr schöner stattlicher Vater, zu dem sie so stolz und freudig emporgeblickt hatte? Die Thränen schossen ihr in die Augen, als sie sich tief über die Hand neigte, die auf ihrem Arm lag. „Es soll alles sein, wie Du es haben willst,“ sagte sie mit einer Stimme, die sich umsonst mühte, heiter und gefaßt zu klingen.

„Dank Dir, mein Kindl Es ist ein Opfer, das Du mir bringen mußt –“

„Nein Papa, nein, das ist es nicht!“

„Doch, Ilse! Aber ich nehme es an, denn ich habe noch zu leben für Dich und für Armin und weiß, daß die Wurzeln meines Lebens hier in ‚Perle‘ festgewachsen sind.“

Schweigend legten beide den Weg bis zu der Doßbergschen Familiengruft zurück; daß diese das Ziel ihres Ganges sei, hatten Vater und Tochter in stillschweigendem Einverständnis angenommen. Vor kaum einer Stunde war ein warmer Mairegen gefallen, dankbar strömte das junge Blattwerk an Baum und Busch seinen herbkräftigen Atem in die weiche Abendluft. Die Gräber lagen da wie ein stilles Heiligtum, das letzte in der Reihe geschmückt mit dem Blütenflor der schönsten Frühlingsblumen. Ringsumher schimmerte der Rasen smaragden in den schmalen Streiflichtern,

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