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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

immer wieder fuhr er mit dem Aermel über die Augen, um die Zähren fortzuwischen und bei dem zitternden Eifer, mit welchem er den ersten Brief an Timotheus suchte, fielen einzelne Blätter aus dem Bande, vergilbt und brüchig, mit halb erloschener Schrift, an Kanten und Ecken übel zugerichtet von den Zähnen der Mäuse und der Zeit. „Gleich muß es kommen ...“ Er warf die Blätter um und suchte: „An Timotheus, drittes Kapitel, zweiter Vers ... da schau’ her, da muß es stehen ...“ Er wollte mit dem Finger deuten; aber da stand er wie entgeistert und starrte auf das Pergament, welches bis über die Mitte zu Fasern und Fetzen zerbissen war. „Jetzt haben mir die Mäus’ das heilige Wort gefressen ...“ Lachend sank er in die Knie, fiel mit Gesicht und Armen über das Buch und brach in bitterliches Schluchzen aus.

Eberwein erhob sich, mühsam, als hätte er nicht mehr die Kraft, zu stehen. In seinen Zügen spiegelte sich der Kampf, der ihm das Herz erfüllte; sein reines menschliches Empfinden und Erbarmen auf der einen Seite, auf der anderen die beschworene Pflicht seines kirchlichen Amtes. Er legte die Hand auf die Schulter des schluchzenden Greises, doch er fand kein Wort des Trostes, kein Wort des Rates, weder für Hiltischalks Jammer, noch für die eigene Pein. „Ich kann ihn nicht weinen sehen,“ stammelte er, „ich ertrag’ es nicht!“ Und die Hände vor die Augen schlagend, taumelte er aus dem Hause.

Hiltischalk richtete sich wankend auf, und seine nassen verstörten Augen irrten in der leeren Stube umher. „Fort ist er! Fort! Hat mich geworfen in Not und in der Not verläßt er mich!“ Mit ausgestreckten Händen lief er zur Thür. „Bruder, mein lieber Bruder!“ Als er den Hof erreichte, sah er Eberwein unter dem Kirchhof, am Ufer der reißenden Ache, auf schmalem Karrenweg dahineilen, mit flatterndem Gewand und vorgehendem Haupte wie einer, der in tobendem Sturme schreitet.

Hiltidiu kam mit Mätzel vom Kirchlein gelaufen. „Warum ist er denn fort? Was hat er?“ Die Sprache versagte ihr, als sie das verstörte Gesicht des Greises und seine nassen Augen sah.

„Ja wo lauft er denn hin?“ jammerte Hiltischalk, als wäre die vergangene Stunde jählings vergessen und nur der Weg noch, welchen Eberwein genommen, seine einzige Sorge. „Er will ja doch zum Lokiwald und lauft der Windach zu! Er muß sich ja verirren! Es kann ihm ja ’was geschehen! Mätzel, komm doch, komm und lauf’ und zeig’ ihm den rechten Weg!“

Aber Mätzel stand und rührte sich nicht; ihre Augen hingen an ihrem Herrn und am ganzen Körper begann sie zu zittern, als fiele ihr jede Zähre, die sie über seine weißen Bartstoppeln niedertropfen sah, wie ein heißer Schmerz in die treue Seele.

„So lauf’ doch, Mätzel, lauf’ – oder ich lauf’ halt selber und führ’ ihn!“ Hiltischalk wollte zum Hagthor eilen, da aber hielt ihn Mätzel kreischend zurück, faßte einen dürren Stecken, der neben der Thür an der Holzwand lehnte, und schoß zum Hof hinaus, mit langen Sprüngen dem Wege folgend, auf welchem Eberwein verschwunden war.

„Was sagst, Hilti, was sagst! Der wär’ jetzt hineingelaufen in die Windachklamm!“ Mit diesen Worten wandte sich Hiltischalk zu seinem Weibe, das schweigend und bleich dastand, von dunkler Angst bedrückt. „In die Windachklamm ...“ wiederholte er noch, dann ging ihm die Sprache aus. Seine verstörten Blicke glitten über die Greisin, ein schluchzender Wehlaut erschütterte seine Brust, und in ratlosem Jammer die Hände ringend, wankte er der Steinbank unter der Linde zu. Erschrocken eilte ihm Hiltidiu nach. „Ja lieber Herr im Himmel, was ist denn? So red’ doch!“

Sie wollte ihn stützen, doch er wich zurück und stammelte: „Thu’ nicht rühren an mich!“ Im nächsten Augenblick aber streckte er selbst die Hände aus, warf sich an die Brust der Greisin, umschlang sie, drückte sie an sich mit all der müden Kraft seiner alten Arme und weinte wie ein Kind. Sie sprach kein Wort; nur ihre Blicke suchten den Himmel. Den Wankenden zärtlich stützend, ließ sie ihn auf die Steinbank sinken, hielt sein Haupt an ihrer Brust, streichelte mit linder Hand sein weißes Haar und harrte geduldig, bis er sprechen würde.

Als Hiltischalk in seinen Thrähnen endlich Worte fand, flüsterte er scheu und leise: „Weißt, was er gesagt hat, Hilti? Er hat gesagt: wir zwei, wir wären nicht Mann und Weib!“

Hiltidiu schüttelte den Kopf – sie verstand nicht. „Wir zwei nicht Mann und Weib? Ja was denn sonst?“

„Ich weiß nicht!“ schluchzte der Greis und griff mit zuckenden Händen an seine Brust, an seine Schläfe. Taumelnd erhob er sich. „Komm, Hilti, komm!“ Er umklammerte ihren Arm. „Komm, komm – das reden wir zwei nicht aus, wir zwei allein ... da muß noch ein anderer dabei sein, ein anderer!“ Und er zog die Sprachlose hinter sich her durch den Friedhof, zum Thor des Kirchleins. Sie traten ein ...

In der leeren Stube erlosch der Schein des vergessenen Herdfeuers. Stille lag um die hölzernen Mauern und über den Gräbern; nur manchmal raschelte es leise ... von der Linde fiel das welke Laub.




20.

In der Morgenstille zog Recka durch den Untersteiner Forst. Wohl führte sie die Zügel, doch ihr Rappe suchte die Pfade, wie er wollte. Mit verlorenen Blicken starrte sie vor sich nieder; zuweilen, unter einem stockenden Atemzuge, hob sie die Augen und sah umher, als fände sie sich in fremder, nie gesehener Gegend. Dann wieder versank sie an ihr Brüten und Sinnen. Ein Rehbock, den der Hufschlag aufgescheucht, flüchtete vor dem Pferde vorüber; da erinnerte sich Recka, daß sie zum Weidwerk ausgezogen war, und griff nach dem Bogen; doch sie merkte, daß sie einen leeren Köcher an den Sattel gehängt. Seufzend ließ sie die Hände sinken, und ein müdes Lächeln ging über ihre Lippen.

Im Weiterreiten gewahrte sie nicht, daß der Rappe den Heimweg suchte; sie blickte erst auf, als das Pferd unter den Bäumen hinaustrat auf die Seelände. Beim Anblick des Fischerhauses floß eine dunkle Röte über ihr Gesicht, und sie spannte mit so heftigem Ruck den Zügel, daß der Rappe sich bäumte. Sie wollte wenden, aber da ließ sie die Zügel wieder sinken und raunte mit zuckenden Lippen: „Fürcht’ ich mich schon vor ihm?“ Zornig auflachend, stieß sie dem Pferde den Stachel in die Flanke, daß es mit tollen Sprüngen hinwegjagte über den Sand.

Edelrot, welche mit Hilmtrud auf der Hausbank saß, gewahrte die Wazemannstochter. „Recka! Recka!“ rief sie und eilte zum Hagthor. Doch als sie auf die Lände trat, war die Reiterin schon im Uferwald verschwunden. „Recka! Recka!“ Und mit flatterndem Röcklein lief Edelrot der Ache zu; vor der Brücke holte sie die Wazemannstochter ein. „Recka, so hör’ mich doch, oder kennst Du die Stimm’ Deiner Gesellin nimmer?“

Langsam wandte Recka das Gesicht und blickte mit halbgeschlossenen Augen auf das Mädchen nieder. „Wer bist Du?“

Erschrocken und sprachlos starrte Edelrot zu der Reiterin auf. Als aber Recka sich abkehrte und den Rappen auf die Brücke lenkte, lief ihr das Mädchen nach und klammerte sich mit beiden Händen an ihr Kleid. „Ja was hast denn? So schau’ mich doch an! Ich bin’s ja, ich, Deine Treugesellin!“

„Laß Deine Hände von mir!“ rief die Wazemannstochter in aufwallendem Zorn. „Du bist Deines Bruders Schwester, mehr weiß ich nicht von Dir!“

Erblassend trat Edelrot zurück, und ihre Augen wurden naß, während sie den Goldring, den sie von Recka empfangen, von ihrem Finger streifte. „Wenn Du um meines Bruders willen mich nimmer kennen magst,“ sägte sie mit schwankender Stimme, „so nimm auch den Reif wieder, den Du mir gegeben hast auf Lieb’ und Treu’.“ Sie legte den Ring in Reckas Hand. „Thu’, wie Du magst, lös’ Deine Lieb’ von mir ... die meine soll Dir bleiben, solang’ ich leb’!“

Recka starrte auf das Ringlein in ihrer Hand, dann hob sie tief atmend die Augen; der Ausdruck ihrer Züge wandelte sich, und in tiefer Bewegung stammelte sie: „Rötli, Rötli!“

Hastige Schritte erklangen im Wald, und Sigenot kam unter den Bäumen hervorgestürzt. Als sähe er die Tochter Wazes nicht, so stellte er sich mit dem Rücken gegen sie, faßte die Hand des Mädchens und sagte, halb atemlos: „Schwester, wie hast Du vergessen können, was ich Dich geheißen hab’? Du sollst nicht weilen außer Thor! Winter liegt her um unseren Hag und die Wölf’ gehen um!“

„Aber so schau’ doch,“ flüsterte Edelrot, „ich bin ja nicht allein!“

„Ich seh’ nur Dich!“

Da lachte Recka; sie senkte die Hand, das Ringlein kollerte über ihren Schoß, fiel nieder auf einen Stein, sprang klingend in

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