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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Viele von denen, welche die Montrosesche Einladung zum Fest abgelehnt hatten, waren heute erschienen; es galt, der armen Baronin Doßberg das letzte Geleit zu geben, da schloß sich niemand aus. Die beschränkten Räume des Verwalterhauses waren kaum imstande, das ganze Trauergefolge zu fassen.

Horch! Tiefe feierliche Glockenklänge kamen durch die stille Luft. Mit den Tönen des Geläuts der Dorfkirche mischten sich die der Wolframskapelle, tiefer und voller, es war, wie wenn zwei Stimmen miteinander Zwiesprach hielten. Und nun setzte sich unter den beschneiten Bäumen hin der lange Trauerzug in Bewegung. Der hochgetragene Sarg mit seiner Blumenfülle schien durch die klare Winterluft langsam hinzuschweben. Dicht hinter dem Sarge ging Baron Doßberg mit seinen beiden Kindern. Die Leute aus dem Dorf stießen einander an und hatten mitleidige Gesichter, die Frauen zogen die sorgsam gefalteten Taschentücher hervor. Du lieber Gott, wie alt war der Herr Baron geworden, wie grau! War auch hart für ihn – das schöne Gut abgeben und nun die Frau verlieren, die er so über alles geliebt hatte! Und der Junker Armin sah ganz verweint aus, die Baroneß bildschön in ihren schwarzen langschleppenden Trauergewändern, ganz die verstorbene Mutter, nur rosiger, gesunder! Ihre Baroneß Ilse, die kannten die Leute am besten, die war ihnen allen am vertrautesten; die Gesichter hellten sich auf, als sie kam. Und hinterher, da kamen diese „Neuen“, die man noch so wenig gesehen hatte. Neugierig drängten die Dörfler nach vorn, um besser beobachten zu können. Den vornehmen großen Herrn mit dem feinen Gesicht kannten wohl die meisten; das war er selbst, „der Franzos“, wie sie ihn kurzweg nannten, der das Gut gekauft hatte, der immer mit dem Baron im kleinen Jagdwagen herumfuhr. Mußte schwer Geld haben, sollte auch soweit leidlich sein, der alte Hinz lobte ihn immer. Aber die Tochter, die mußte bös hochmütig sein, und die beiden Offiziere, der Sohn und der Bräutigam der Tochter, ebenso! Was die für hochfahrende Mienen aufsetzten, denen sah man den Stolz schon auf hundert Schritte an!

Der Geistliche, ein würdiger Herr mit einem milden menschenfreundlichen Gesicht, stellte sich an dem offenen Grabe auf, und jetzt begannen die Kinder ihren Choral. Die hellen Knaben- und Mädchenstimmen mischten sich mit den Glockenklängen und hallten feierlich nach in der reinen Dezemberluft. Als der letzte Ton verklungen war, wurde es ganz still, bis die Stimme des Geistlichen sich erhob. Da und dort begleitete ein halb unterdrücktes Schluchzen, ein tiefes Aufseufzen die schlichten warmen Worte, die er sprach, und als dann der Sarg in der offenen Gruft verschwand, da brach Baron Doßberg in ein verzweifeltes thränenloses Schluchzen aus. Sein Dasein sah ihn so öde, so ziel- und zwecklos an ohne sie, die nun hier für immer ruhen sollte; ihn dünkte, seine Lebensaufgabe sei gethan, nun er nicht mehr um sie zu sorgen, sie zu behüten hätte. Da trat eine breitschulterige gedrungene Männergestalt, der man auf den ersten Blick den Seemann ansah, neben den Schmerzgebeugten, legte ihm die Hand auf die Schulter und ermahnte ihn, an seine Kinder zu denken, an die Pflichten, die er gegen sie zu erfüllen habe. Ilse nickte dem Onkel dankbar zu und schlang ihren Arm um den Hals des Vaters, Armin faßte zaghaft dessen Hand.

Leupolds scharfe Seemannsaugen musterten durchdringend die „französische Gesellschaft“, ohne sich im mindesten durch die hochmütig gemessenen Blicke der beiden Offiziere einschüchtern zu lassen. Am besten gefiel ihm von der „Sippschaft“ der alte Montrose. Es war ’was drin in dem Gesicht, der Mann konnte unmöglich eine niedrige Gesinnung hegen. Aber wie der alte Herr Ilse ansah – hm, hm, hatte doch schon graue Haare, erwachsene Kinder – nicht sehr anmutend anzuschauen, diese Sprößlinge! – und dennoch! Der alte Leupold konnte die Weiber nicht leiden, aber er war nicht so thöricht, sich’s ableugnen zu wollen, welche Rolle sie im Leben spielten. Er wußte, daß sie aus ernsten besonnenen Männern heißblütige Knaben machen konnten. Ilse war nun freilich verlobt mit Albrecht Kamphausen, diesem Prachtkerl – so nannte der alte Kapitän in der Stille sein Patenkind – aber wenn er sich entsann, wie sie damals errötete und verlegen wurde, als Montroses Name genannt wurde, und nicht mit der Sprache herausging – wer wollte sagen, was die Leidenschaft da wieder für ’nen Brei zusammenrührte! Wer konnte auf ein Weib bauen, wer vermochte, ihrer sicher zu sein?

Als das Grab mit den herrlichsten Kränzen und Palmzweigen bedeckt wurde, trat Herr von Montrose entblößten Hauptes zu den Doßbergs hin. Er schüttelte dem Baron die Rechte und küßte Ilses Hand, während er sie bat, bei jeder sich bietenden Gelegenheit über ihn und die Seinigen zu verfügen; er kenne keinen wärmeren Wunsch, keine größere Ehre als das Verlangen, teil zu haben an ihrem Schmerz, sich in Freude wie in Leid zu ihren Freunden zählen zu dürfen. So wie diese Worte gesprochen wurden, waren sie, zusammen mit der ganzen Haltung des Redenden, eine deutliche Demonstration, und es blieb kein Zweifel, daß sie von sämtlichen Anwesenden als solche empfunden wurden.

Man verabschiedete sich allgemach von den Doßbergs. Gut gemeinte Trostreden, Küsse, Umarmungen, Händedrücke – alles wurde den Leidtragenden reichlich zu teil. Onkel Erich Leupold, den die wenigsten der Gutsnachbarn persönlich kannten, hatte mit unerschütterlichem Gleichmut diese Scenen mit angeschaut und blieb zuletzt allein bei seinen Angehörigen zurück.

Bei den Montroses sprach noch einer oder der andere der entfernter wohnenden Besitzer zu einem Glase Wein vor, keiner von ihnen aber blieb lange, und gegen zwei Uhr nachmittags war die Familie wieder unter sich. Man war in einem der unteren Seitenzimmer versammelt, das an den Billardsaal stieß. Es fehlte noch eine Stunde bis zum Diner. Georges und Botho hatten mit dem jungen Grafen Röstem, der soeben als letzter abgefahren war, eine Partie Billard gemacht, dann die Bälle zwecklos eine Weile hin und hergestoßen, jetzt kamen sie beide in das Nebenzimmer, in welchem Clémence mit einem Stickrahmen am Fenster saß. Sie nähte in Gold und Seide eine kleine Tischdecke für ihren Verlobten. Herr von Montrose las in einer Zeitschrift und rauchte eine Cigarette dazu.

Als Georges über die Schwelle trat, warf er seiner Schwester einen bedeutsamen Blick zu, den sie sofort richtig deutete. Sie stickte nur noch zum Schein weiter, und die Nadel zitterte in ihrer Hand. Botho von Jagemann zündete sich gleich Herrn von Montrose eine Cigarette an, seine Hand war aber unsicher, und über dem rechten Augenlid hatte er ein nervöses Zucken.

Georges räusperte sich leicht. „Hättest Du einige Minuten Zeit für mich übrig, Papa?“ begann er endlich.

Herr von Montrose blickte auf, legte das Heft, das er hielt, vor sich auf den Tisch und nahm sich frisches Feuer für seine Cigarette. „Bitte!“

„Ich habe in letzter Zeit einige Beobachtungen gemacht,“ begann Georges in seinem gewöhnlichen leichten, ein wenig spöttischen Ton, „die mich, gelinde gesagt, in nicht geringes Staunen versetzt haben. Nicht ich allein übrigens hatte mich zu verwundern – Clémence und Botho haben die gleichen Wahrnehmungen machen können und befinden sich durchaus auf meinem Standpunkt.“

Herr von Montrose sah von seinem Sohn zu den beiden Bezeichneten hinüber; er hlickte allen dreien ruhig ins Gesicht wie jemand, der kaltblütig abwarten möchte, wo der andere hinaus will.

„Es will uns nämlich scheinen,“ fuhr Georges, durch diese kühle Ruhe geärgert, in etwas schärferem Ton fort, „als wenn Du an diese Familie Doßberg, namentlich an die Tochter des Hauses, etwas zuviel – wie soll ich es nennen? – etwas zuviel Liebenswürdigkeit und persönliches Entgegenkommen verschwendetest –“

„Möchtet Ihr Euch nicht derartige Auseinandersetzungen ersparen?“ fragte Montrose gelassen und streifte die Asche von seiner Cigarette ab. „Eine Kritik an dieser Stelle, bei dieser Gelegenheit erscheint mir mehr als überflüssig.“

„Hättest Du nur über Deine eigene Person bestimmt, Papa, so würden wir uns vielleicht bemüßigt gefühlt haben, einstweilen zu schweigen und den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten. Du hast es aber für gut befunden, heute, bei Gelegenheit der Begräbnisfeier, nicht nur Dich selbst, sondern auch Deine Familie diesen – diesen Leuten ganz und gar zur Verfügung zu stellen, und ich erlaube mir die Bemerkung, daß es entschieden vorteilhafter gewesen wäre, uns von dieser Maßnahme zuvor zu verständigen.“

„Zu welchem Zweck hätte ich das thun sollen?“

„Vielleicht zu dem Zweck, Dich unserer Einwilligung bei gedachter Gelegenheit zu versichern – einer Einwilligung, die wir allerdings verweigert haben würden.“

Herr von Montrose zog ein wenig die Brauen hoch und schloß halb die Augenlider. Clémence kannte dies „unerträglich

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