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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Mit sinnenden Augen blickte Hinzula auf Schweikers Lippen; die knapp gefaßte und dunkle Geschichte schien ihr nicht völlig einzuleuchten.

Das Ufer war gewonnen, und mit triefenden Füßen schritt Schweiker über die grasige Mulde hinweg, in welcher die Brüder gelagert hatten in jener ersten Sturmnacht. Es war wohl die Erinnerung an jene Nacht, welche ihn vergessen machte, die Hirtin wieder von seinen Armen zu lassen. Und auch Hinzula vergaß, ihn an ihre eigenen Füße zu mahnen. Sie erreichten den schattigen Wald, und Schweiker stieg mit seiner Last über den Hang empor, als wöge sie auf seinen eisernen Armen wie eine Feder. Seitwärts schimmerte eine Lichtung, und da hörten sie ein Getrippel hinter sich. Hinzula blickte über Schweikers Schulter.

Schau’ doch, schau’, da kommt mein Zottli daher!“ Mit mattem Stimmlein lockte sie das Tier, und der Bock, dem die vier Geißen folgten, kam mit spielenden Sprüngen zwischen den Bäumen hervor. Meckernd blieben die Tiere stehen und lugten zur Hirtin auf; langsam trippelten sie hinter Schweiker her, blieben abermals stehen und folgten aufs neue.

Der Wald wurde eben, die Bäume gingen zu Ende, und Schweiker erreichte eine weite Wiese, in deren Mitte ein hoher Hag sich erhob, das Haus verdeckend; gegen den Berghang zog sich ein Roggenfeld hin, auf welchem ein Mann und ein Weib mit der Sichel die mageren Aehren schnitten. „Schau’, dort,“ flüsterte Hinzula, „der Vater und die Mutter! Mein Bruder ist nicht daheim, der sennet auf der Alben.“

Schweiker stand und schöpfte Atem; seine Stirne zog sich in Falten, denn es erwachte in ihm die gruselige Frage: wie muß wohl die Mutter aussehen, die ein Kind hat, das sich vier Jahr’ lang nicht gewaschen?

Der Greinwalder und sein Weib hatten den Fremden, der ihren Grund und Boden betreten, schon gewahrt. Sie blickten über den sonnigen Hang herunter, die Hände über die Augen gedeckt, und redeten miteinander. Was sie sahen, mußte freilich ihr Staunen wecken; dieser Fremde in der seltsamen Tracht, ein Mensch wie ein Riese, mit dem wallenden Flachsbart und dem geschorenen Kopf, eine Dirn’ auf seinen nackten braunen Armen, und hinter ihm die meckernden Ziegen! Da erkannte die Greinwalderin ihr Kind; mit einem Schreckensruf warf sie die Sichel weg und kam herbeigelaufen, während der Mann ihr zögernd folgte.

Bruder Schweiker riß die blauen Augen auf, als er das freundlich anzusehende Weiblein erblickte, bei aller Aermlichkeit doch sauber gewandet und an Gesicht und Händen tadellos gewaschen. Vor Staunen sanken ihm die Arme, daß Hinzula zur Erde glitt ... vor Staunen fand er keine Antwort auf die erschrockenen Fragen der beiden Leute. Hinzula selbst mußte der Mutter und dem Vater berichten, was ihr geschehen und wie sie Hilfe gefunden.

Als der Greinwalder hörte, daß Schweiker einer von den Gottesmännern wäre, die ins Thal gekommen, musterte er den Bruder vom Kopf bis zu den Füßen und sagte: „So einen Senn’ möcht’ ich haben; da hätt’ mein Vieh wohl Ruh’ vor den Wölf’ und Bären und mein Haus vor den Wazemannsbuben auch!“

Schweiker hatte kein Ohr für dieses Lob. Denn er mußte der Greinwalderin, welche unter Seufzen und Zähren ihr Kind in den Hag führte, die Aufträge hersagen, die ihm Pater Eberwein für Hinzulas Pflege erteilt ... dabei wäre, wie er besonders betonte, Wasser und Reinlichleit nicht zu vergessen.

„Aber hör’,“ stotterte das Weiblein, „ich mein’ doch, das versteht sich von selber!“

Diese Antwort brachte den Bruder Schweiker wieder um alle Fassung. Seit vier Jahren hatte die Greinwalderin nicht ans Waschen gedacht, und jetzt auf einmal waren ihr diese beiden Dinge eine selbstverständliche Notwendigkeit! Kopfschüttelnd betrat Schweiker das sauber gehaltene Gehöft, darin das kleine Balkenhaus sich erhob, dem man die Liebe ansah, mit welcher es in gutem Stand erhalten wurde. In jeder Fensterluke stand ein hölzernes Tröglein mit blühenden Nelken, zwei weiße kraushaarige Lämmer trippelten im Hof umher, die Hühner scharrten in der Sonne, und zu Hunderten schossen die aus und einziehenden Immen durch die Luft.

Als Hinzula, von der Mutter geführt, das Haus betreten wollte, wandte sie auf der Schwelle das Gesicht, blickte zu Schweiker auf und fragte mit beklommenem Stimmlein: „Gelt, Du bleibst schon noch da?“

„Freilich, Kindl, freilich!“ sagte er und nickte ihr lachend zu. Dann ließ er sich auf die Hausbank niedersinken, that einen lauten tiefen Atemzug, streckte die Beine und wischte sich mit beiden Armen den in Bächlein rinnenden Schweiß vom Gesicht. Der Greinwalder trat vor den Bruder hin und bot ihm die Hand. „Vergelt’s, Gottesmann, vergelt’s für alles, was Du gethan hast für mein Kind!“

„Da braucht’s keinen Dank! Ist gern geschehen, wohl wohl!“ Schweiker wischte die Hand am Kittel ab und reichte sie dem Bauer.

„Und lohnen will ich’s auch, weißt! All Woch’ zweimal, wenn mein Bub’ abtragt von der Alben, schick’ ich Euch ein Körbl voll Zeug hinunter. Jetzt weiß ich doch, wem’s zukommt!“

„Das muß nicht sein!“ sagte Schweiker, aber da fiel ihm Bruder Wampo ein, und er fügte zögernd bei. „Wenn Du ’was graten kannst, und du giebst es gern ... meinethalben. Aber sein muß es nicht.“

Die Greinwalderin kam aus dem Haus gelaufen, füllte an einem sprudelnden Quell eine hölzerne Kanne und verschwand wieder in der Thür. Schmunzelnd blickte Schweiker ihr nach, und als sich der Greinwalder an seine Seite setzte, sagte er zu ihm: „Wo ich hinschau’ ... alles gefallt mir da. Bist ein rechtschaffener Bauer. Auch Dein Weibel schaut sich gut an und tragt sich sauber im Häs. Aber sag’ mir nur, wie kann denn die Mutter ihr Kindl so umlaufen lassen ... vier Jahr’ lang kein Tröpfl Wasser im Gesicht, vier Jahr’ lang nimmer gewaschen!“

„Vier Jahr’ lang, wohl wohl,“ nickte der Greinwalder, „weißt, seit wir halt gemerkt haben, daß die Dirn’ sich lieb und sauber auswachst.“

Schweiker machte große Augen; diese seltsame Logik wollte ihm nicht einleuchten. „Weil sie lieb und sauber ist, darum muß man sie schiech machen, daß einem hätt’ grausen können vor ihr?“

„Grausen! Freilich! Wie mehr, so besser! Wenn die Wazemannsbuben meine Dirn’ gesehen haben, so haben sie geschrieen. ‚Der Schmierfink!‘ und sind davongelaufen.“ Die Augen des Bauern funkelten. „Hätten sie gemerkt, was dahinter versteckt ist, ich hätt’ meine Dirn’ schon lang einmal suchen dürfen und hätt’ sie wohl nimmer so gefunden, wie sie von mir gegangen!“

Nun verstand der Bruder. Eine dunkle Röte floß über sein Gesicht, er ballte die Fäuste und blickte über den Bergwald hinunter nach dem Lokistein. „Laß gut sein, Greinwalder, das Blattl soll sich wenden, und müßt’ ich selber drein schlagen mit allen zwei Fäusten! Den Wazemannsbuben soll ein Riegel gelegt werden!“

„Es wär’ an der Zeit!“ Und um dieses Wort zu bekräftigen, erzählte der Geinwalder, was er und die Seinen von den Wazemannsleuten erduldet hatten seit langen Jahren. „Bei meinem Vater haben sie angefangen,“ so schloß die böse Litanei, „und jetzt kommen sie über mein Kind. Schau’ sell hinüber, Gottesmann!“ Er deutete nach einer einsam stehenden Fichte, welche ohne Gipfel war. „Dort steht noch die Ficht’, an deren Gipfel die Wazemannsknecht’ meinen Vater gebunden haben, weil er sich als Freibauer gewehrt hat wider die Fron’. Den Gipfel hat mein Vater abgeschnitten, und der dürre Stecken harret in meiner Kammer auf den Tag, an dem heimgezahlt wird!“

Die Greinwalderin kam aus der Thür und blickte, als sie die zwei roten Köpfe sah, besorgt von dem einen zum anderen. Dann sagte sie zu Schweiker. „Geh’, komm ein lützel herein, meine Dirn’ laßt mir keine Ruh’ nimmer, allweil verlanget sie nach Dir!“

Mit einem Sprung war Schweiker im Haus. Als der Greinwalder ihm folgen wollte, hielt ihn das Weib am Kittel fest und fragte scheu: „Hast doch nicht gescholten wider die Wazemannsleut’?“

„Und gehörig auch noch!“

„Aber Bauer, Bauer!“ stotterte die Greinwalderin erschrocken. „Wenn’s der Fremde jetzt weitertragt!“

„Der? Da hab’ keine Sorg’!“

(Fortsetzung folgt.)


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