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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

und um den Schlummer leichter zu finden, begann er eine Litanei zu beten.

Stille Stunden verrannen, und allmählich wandelte sich die Nacht zum Morgen. Im ersten Grau kam ein Fuchs über den Berghang heruntergeschlichen; langsam schob er sich durch das tauige Heidegras, vorsichtig nach allen Seiten windend. Plötzlich verhoffte er, hob spähend den Kopf und flüchtete mit langen Sprüngen den Felsen zu. Hinzula war aus dem Wald getreten, mit einem Weidenkorb auf dem Rücken und dem Hirtenstecken in der Hand. Zögernd näherte sie sich dem Zelt der Brüder, stellte den Korb zur Erde und begann seinen Inhalt auszukramen: Milch und Honig, Butter und Eier, Käse und Roggenbrot. „Der wird schauen, wenn er aufwacht!“ flüsterte sie lächelnd, während sie sich erhob und den Korb wieder über die Schulter schwang. Schon wollte sie gehen, da hörte sie ein Geräusch aus dem Zelte; es klang wie eine große Säge im hohlen Baum ... Bruder Schweiker schnarchte. Hinzula kicherte und versuchte die Schlummerstimme des Bruders nachzuahmen; doch was sie fertig brachte, klang im Vergleich zu den Lauten da drinnen wie das Zirpen einer Grille gegen eines Bären Gebrumm. Endlich gab sie die vergebliche Mühe auf. „Schnarkel’ nur zu! Wer fest schnarkelt, der schlaft gut, und der Schnarkler scheuchet die Truden und Maren!“ Lachend sprang sie dem Waldsaum entgegen, während das wachsende Licht über dem vom Tau benäßten Gras den Morgennebel steigen machte.

Bruder Schweiker erhob sich vom Lager. „Jetzt mein’ ich aber selber, ich hätt’ ’was gehört,“ murmelte er und lauschte. Da merkte er, daß es Tag wurde. „Freilich, die Arbeit hat nach mir geschrieen!“ Und mit gleichen Füßen sprang er auf die Erde. „Auf mit Gott, beim Teufel ist kein Trost!“ Sein Anzug war bald in Ordnung gebracht; er hatte in der Wollhose und im Arbeitskittel geschlafen und brauchte nur in die Schuhe zu schlüpfen. Den aus Holzperlen gereihten Rosenkranz, der zu Häupten seines Lagers gehangen, steckte er hinter den Gürtel, denn nach dem Morgenläuten sollte das gemeinsame Gebet gesprochen werden. Als er nun vor das Zelt trat, sah er die freundliche Bescherung auf der Erde. Eine dunkle Röthe floß über sein Gesicht, und mit breitem Lachen nickte er vor sich hin. „Schau’, schau’, das Bartele!“

Ein helles Kichern klang vom Waldsaum herüber. Schweiker blickte auf. „Hinzula?“ rief er und eilte mit langen Schritten den Bäumen zu. Aber flink wie ein Reh sprang die Hirtin aus ihrem Versteck und eilte thalwärts durch den Wald, der Ache entgegen. Doch war sie gar weit noch nicht gekommen, da rief ihr eine zornige Stimme zu. „Steh’, Dirn’!“ Und Henning kam zwischen den Bäumen hervorgeritten, dicht vor dem erschrockenen Mädchen das Pferd verhaltend. „Treff’ ich Dich schon wieder auf meinem Weg? Hab’ ich Dir nicht gesagt, Du Schmierfink, daß hier Bannwald ist?“

Hinzula ließ den Stecken sinken und während sie mit beiden Händen die Tragbänder des Korbes faßte, blickte sie in Scheu und Angst zu dem bleichen übernächtigen Gesicht des Reiters auf, in dessen Augen alle Wut funkelte, welche an ihm gezehrt hatte in schlafloser Nacht. Henning sah den leeren Korb auf der Schulter des Mädchens. „Wo kommst Du her?“ schrie er und riß die mit schwerem Hirschhorngriff versehene Reitpeitsche aus der Satteltasche. „Wo kommst Du her?“

„Von dort, Herre,“ stotterte das Mädchen, „wo die frommen Brüder bauen.“

„Was hattest Du zu schaffen dort?“

„Albengab’ hab’ ich hingetragen, Milch und Honig, Eier und Butter.“

„Das soll der Teufel Dir gesegnen!“ fluchte Henning und schwang mit zorniger Wucht den Knauf der Peitsche.

„Herre! Was thust mir denn?“ stammelte die Hirtin und wollte fliehen. Doch ehe sie sich zu wenden vermochte, fiel der Schlag und traf die Stirn des Mädchens. Ein bebender Schmerzenslaut rang sich von Hinzulas Lippen, eine Strecke noch, während das rote Blut über ihre Augen und Wangen rann taumelte sie dahin zwischen den Bäumen ... von ihrem Rücken fiel der Korb und rollte über das Moos ... dann wankte sie, mit zuckender Händen, stöhnend, griff sie in die Luft und stürzte zu Boden.

„Hinzula! Hinzula!“ klang Schweikers Stimme im Wald. Er hatte den zitternden Weheschrei des Mädchens gehört und kam über die Wurzeln und bemoosten Steine einhergesprungen, mit hohen Sätzen und wehendem Bart, einen Knüppel in der Faust, als gält’ es, die Hirtin zu retten vor einem reißenden Tier. „Hinzula! Hinzula!“ Der Ruf erstickte auf seinen Lippen; zwischen den Bäumen sah er die Hirtin liegen, regungslos, mit geschlossenen Augen, besudelt von Blut. Der Knüppel fiel aus seiner Hand, er hörte nicht das Brechen der Aeste, hörte nicht den Hufschlag des enteilenden Reiters ... in Schreck und Jammer schlug er die Hände zusammen und warf sich auf die Knie. „Kindl! Kindl! O mein lieber Himmelsherr, was ist denn da geschehen?“ Er hob das von Blut überströmte Köpflein der Hirtin auf seine Arme; ein mattes Stöhnen kam von den Lippen der Ohnmächtigen, und reichlicher blutete die klaffende Wunde an der Stirn’. Mit nassen Augen blickte Schweiker umher, als müßte die ersehnte Hilfe aus den Bäumen treten, aus den Lüften kommen wie ein Wunder. „O Ihr guten Heiligen! Ja was thu’ ich denn?“ Er drückte die zitternde Hand auf die Wunde, um das Blut zu stillen; doch der rote Quell rann ihm heiß durch die Finger. Von namenloser Angst befallen, schrie er mit gellender Stimme. „Mordio! Mordio!“ Mit beiden Armen umschlang er das Mädchen, richtete sich auf und begann mit seiner Last zu laufen. Keuchend erreichte er die von bleicher Morgenhelle übergossene Lichtung, von welcher dünne Nebel aufdampften gegen den Berghang. Wie ein Schleier lag’s über den Zelten und über dem Klausenbau.

„Mordio!“ hallte Schweikers Stimme.

Da tauchte eine Gestalt im Nebel auf. Eberwein war es. „Schweiker! Was rufest Du Mord? Wer ist in Not?“ Er eilte herbei und sah auf des Bruders Armen das blutende Mädchen liegen, mit hängendem Haupt und schlaffen Gliedern, einer Toten gleich.

„Schau’, Herre, schau’!“ jammerte Schweiker, die Stimme halb erstickt von Thränen. „Jetzt haben sie uns das Kindl erschlagen! Unser einzig’s, unser einzig’s!“

„Spute Dich, Schweiker!“ rief Eberwein. „Trage das Mädchen zum Teich, kühle die Wunde mit Wasser ... ich hole, was ich brauche!“ Er sprang davon, im Nebel verschwindend.

Schweiker stand, zitternd und dem Enteilenden nachstarrend mit ratlosem Blick. Da fühlte er, wie ihm das Blut der Hirtin über die Arme rann, wie es an der Brust durch den Kittel quoll und warm an seinen Körper rieselte. Wie ein Schwindel befiel es ihn. „Sie verblutet, sie verblutet ja!“ lallte er und rannte dem Teich entgegen. Am Ufer ließ er sich niedersinken, bettete den Kopf des Mädchens in seinen Schoß, schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und goß das kalte Naß über die wunde Stirn; mit dem über Hinzulas Haar und Antlitz rinnenden Wasser vermischte sich das Blut und wurde dünner. Schweiker schöpfte und schöpfte ... und zwischen dem rinnenden Blut erschien mit weißer Haut ein Gesichtlein von kindlichem Liebreiz. Immer weiter öffneten sich Schweikers Augen. Immer weiter schöpfte seine zitternde Hand das Wasser und goß und wusch. Da streckte sich Hinzula und ein stockender Atemzug erschütterte ihre Brust. „Kindl, Kindl – liebes Kindl!“ stammelte Schweiker und hob mit beiden Armen das Köpflein der Hirtin.

Langsam schlug sie die Augen auf und hing mit starrem Blick an seinem Gesicht. Nun schien sie ihren Retter zu erkennen, denn während ein mattes Lächeln ihren Mund umspielte, hob sie müde die Hand und griff mit gespreizten Fingern in den Flachsbart des Mönches, wie es ein krankes Kind wohl thun mag, wenn es, aus bösem Fieber erwachend, das kummervolle Gesicht des Vaters über sich gebeugt sieht.

Dicke Zähren rollten Schweiker über die bärtigen Wangen. „Sag’ doch, Kindl, sag’, wie ist Dir denn?“

„Gut!“ lispelte Hinzula und lächelte, doch in neu beginnender Schwäche verschwamm ihr schon wieder der Blick unter sinkenden Lidern.

Es wurde lebendig bei den Zelten, man hörte die Stimme Bruder Wampos, und Eberwein kam. „Sie lebet, Herr, sie lebet,“ rief ihm Schweiker entgegen, „aber sie hat vor Schwäch’ schon wieder die Sinn’ verloren!“

Neben dem Bruder kniete Eberwein nieder; mit einem Tuche trocknete er die Stirne der Hirtin und begann mit dem Skalpell die Wunde zu untersuchen. Da mußte Schweiker auf die Seite blicken, er konnte nicht sehen, wie das blinkende Eisen in die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_204.jpg&oldid=- (Version vom 19.6.2020)