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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


hatte, in den geknickten Kiel eingeschoben wurden, um der verletzten Feder wieder Halt zu geben. Langsam ging er auf Reckas Liebling zu. drückte flink, ehe der Falk sich wehren konnte, dem Vogel die eine Hand auf den Rücken und stieß ihm mit der anderen die Nadel in das Eingeweide. „Da hast Du Deinen Teil!“ lachte er und ließ den Falken ledig. Dieser schüttelte das Gefieder, zog den Kopf zwischen die Schultern und rückte unruhig auf der Stange hin und her. Henning warf die Nadel auf den Tisch, und da er den Buben kommen hörte, trat er zu den Reifen und schaukelte die Habichte.

Als der Bub’ das frische Wasser in die Holznäpfe goß und zu Edilo kam, rückte der Vogel scheu auf die Seite; doch die Bewegung schien ihn zu schmerzen, er zog den Rücken auf und stieß einen klagenden Schrei aus. Der Schrei klang hinauf in Reckas Kammer, in welche durch die Fenster nur noch ein trüber Schein des entschlummernden Tages schimmerte.

„Hörst Du ihn?“ flüsterte Recka, die Arme von Rötlis Nacken lösend. „Das ist mein Edilo, mein Liebgesell. Er sehnet sich nach mir und klaget, daß ich ihn seit Tagen nicht geschwungen auf meiner Hand, daß er sitzen muß zwischen übler Mauer, derweil ihn hinaus verlangt in Luft und Sonne, zu hohem Flug.“ Ihre Stimme bebte, und wieder umschlangen ihre Arme das Mädchen. „Ach, Rötli! Wie meinem Edilo, so ist auch einem anderen edlen Falk zu Mut. Er möcht’ hinaus in lichte Freiheit und den Flug hochauf nehmen ins Gewölk, der warmen Sonne zu ... und er muß doch sitzen zwischen üblen Mauern, in einer Rabenkammer, darin die unholde Brut um Aas sich rauft!“ Mit einem Laut des Ekels sprang sie auf, schüttelte das Haar in den Nacken und streckte die Arme. „Hinaus! Hinaus!“

„Recka?“ stammelte Edelrot und erhob sich.

Die Wazemannstochter atmete tief und strich mit der Hand über die Augen. „Schau’, wie dunkel es worden ist! Komm, Rötli, ich führ’ Dich heim!“ Sie nahm von dem Geschmeide, welches in der Dämmerung nur matt noch funkelte, einen Goldring und faßte Rötlis Hand. So traten sie hinaus in die Herrenstube, in welcher auf dem Lichtreif schon die Kerzen brannten. Herr Waze saß noch immer am Fenster, die alte Ulla deckte den Tisch und Henning trat aus der Halle herein in die Stube.

„Rötli,“ sagte Recka mit lauter Stimme und streifte dem überraschten Mädchen den Ring an den Goldfinger der linken Hand, „wir haben Kuß und Lieb’ getauscht, und ich will Dich halten und umschließen mit meiner Treu’ wie mein Reif Deinen Finger!“

Die Thränen traten in Edelrots Augen. Sie wollte sprechen, doch Recka schloß ihr mit der Hand die Lippen und sagte lächelnd: „Red’ nicht! Komm, ich führ’ Dich heim – es ist spät geworden!“

An Henning vorüber führte Recka das Mädchen in die Halle hinaus. Auf der Freitreppe kam Eilbert ihnen entgegen; er war mit seinem Bruder Hartwig, der im Hof mit den Knechten schrie, von erfolgloser Jagd zurückgekehrt. Als Eilbert das Mädchen an seiner Schwester Seite erkannte, flammten seine Augen; doch eh’ er noch Sprache fand, war Recka mit Edelrot an ihm vorübergeschritten. Da hörte er aus der Stube die Stimme seines Vaters und Hennings zornige Gegenrede. Jedes Wort. welches da drinnen gesprochen wurde, konnte er verstehen. Nach einer Weile trat Henning auf die Schwelle. „Und ob sie eingegangen ist unter Dach, ob meine Schwester Lieb’ und Treu’ getauscht hat mit ihr oder nicht,“ rief er in die Stube zurück, „die Dirn’ ist mein! Das sollst mir Du nicht wehren, Du nicht! Und die Schwester auch nicht!“

„Aber ich!“ klang Eilberts Stimme hinter ihm.

Henning wandte sich um, maß mit funkelnden Augen die von der Dämmerung umflossene Gestalt seines Bruders und stieg lachend die Treppe hinunter. Als er den Hof erreichte, murmelte er: „Es ist Zeit, daß ich greif’ nach meinem Gut.“ Er rief den Knecht, der ihm zu Mittag als Späher gedient hatte, und trat mit ihm in den finsteren Schatten der Mauer. „Ich mein’, ich kann mich verlassen auf Dich.“ Der Knecht nickte.

„Leg’ scharfe Wehr um und halt’ Dich fertig, wenn meine Schwester wieder heimkehrt!“

„Wohin geht der Nachtweg?“

„Zu einem Nest, aus dem ich mir einen schmucken Vogel heben will.“

Der Knecht verstand. „Dä mein’ ich aber schier, daß wir zwei zu wenig sind. Der Fischer hat Fäust’ wie Hämmer.“

„Der Fischer?“ lachte Henning, „der Fischer? Um den sorg’ Dich nicht! Der hat heut’ nacht ein stilles Geschäft im Weitsee draußen. Schlag’ nur Du den Wicho nieder ... den Vogel hol’ ich mir schon selber aus dem Nest.“

Während die beiden leise miteinander sprachen, ging am Thor die Fallbrücke nieder und Recka trat mit Edelrot hinaus in die sinkende Nacht. Sie hatten die Brücke noch nicht verlassen, da kam ihnen Wicho schon entgegengestürzt und streckte die Arme aus.

„Wicho, Du?“ lachte Edelrot. „Ja wer hat Dich denn geschickt?“

Recka schob den Stammelnden mit dem Arm beiseite und sagte: „Hörst Du nicht, wie sie lacht? War Dir Wazes Tochter nicht Schutz genug für Deine Herrin?“

Schweigend trat Wicho zurück und folgte den beiden Mädchen, welche Arm in Arm, unter halblautem Geplauder auf dem dunklen Reitweg thalwärts wanderten. Als sie die rauschende Ache erreichten, drückte Recka einen Kuß auf Rötlis Mund.

„Ich bitt’ Dich, nimm den Wicho mit auf den Heimweg,“ sagte Edelrot, „es ist dunkle Nacht geworden.“

„Ich finde meinen Weg und bedarf des Knechtes nicht. Geh’ heim, meine liebe Gesellin, und eines merk’ Dir: betritt nie wieder meines Vaters Haus, es wäre denn, daß ich selbst Dich hole und führe an meiner Hand!“ Zärtlich streifte Recka mit beiden Händen über Rötlis Scheitel, küßte sie auf die Stirn und schritt, zwischen den finsteren Bäumen verschwindend, dem Seeufer und dem steilen Felsenpfad der Falkenwand entgegen.

Edelrot blickte ihr nach. „Wicho,“ fragte sie den Knecht, „ich hab’ es doch heut’ so lieb und gut bei ihr gehabt, weshalb denn warnet sie mich jetzt?“

„Sie wird wohl wissen, warum,“ murrte Wicho und faßte die Hand des Mädchens. „Komm, laß uns heimgehen!“

Sie überschritten die Brücke und gingen den Hag entlang; als sie die Hofreut betraten, gab Wicho die Hand des Mädchens frei und sperrte das Thor. Leichten Fußes eilte Rötli über den Hügel hinauf; auf halbem Weg aber hielt sie inne, sie hörte aus der Halle, deren offene Thür im roten Schein des Herdfeuers leuchtete, jene Worte Sigenots: „Derweil ich gebetet hab’ und gekniet vor ihm – wo war denn seine Treu’, wo war denn seine Hilf’?“ Dann hörte sie ihn schreien: „Mein Eisen! Mein Eisen!“ – und schwarz erschien seine Gestalt in der roten Thür.

„Sigenot?“ stammelte sie.

Beim Klang ihrer Stimme stand er einen Augenblick wie erstarrt; dann stürzte er auf die Schwester zu, faßte ihre Hände und zog sie in den hellen Schein der Thüre. „Deine Augen haben reines Licht!“ Er atmete auf, als fiele ein Stein von seiner Brust. „Rötli! Rötli!“ Und seine Arme umschlangen sie. Mit großen Augen blickte sie zu ihm auf, in der bangen Ahnung einer Gefahr, scheu erschreckend wie ein lachendes Kind, welches jählings über einen Abgrund niederblickt in tiefes finsteres Wasser. Nun gab Sigenot die Schwester frei. „Geh’ zur Mutter, Rötli, sie sorgt sich um Dich!“

Schweigend betrat Edelrot die Halle und Sigenot hörte den schluchzenden Freudenlaut, mit welchem Mutter Mahtilt ihr Kind empfing. Wicho war über den Hügel emporgestiegen. „Weißt Du, wo sie gewesen ist? In Wazemanns Haus! Und bei aller Treu’, die ich Dir in die Hand geschworen, hätt’ ich Deiner Schwester nimmer geholfen, wenn nicht ...“

„Wenn nicht einer geholfen hätt’,“ fiel Sigenot mit bebender Stimme ein, „einer, dessen Arm noch stärker ist als tausend Männer in Wehr und Eisen!“

„Einer?“ fragte Wicho und schüttelte den Kopf. „Nein, Herr, es war eine Weiberhand, die so stark gewesen. Besser als ich hat Wazemanns Tochter Deine Schwester gehütet und hat sie heimgeleitet durch die Nacht bis herunter zum Achensteg.“

Mit jähem Griff hatte Sigenot den Arm des Knechtes gefaßt und starrte ihm in das von der Thürhelle erleuchtete Gesicht; dann wandte er sich schweigend ab und ließ sich niedersinken auf die Hausbank. In der Halle klang Rötlis Stimme. Sie erzählte der Mutter von jener Botschaft, die ihr Henning gebracht, und von allem, was sie erlebt in Wazemanns Haus. Sigenot saß und lauschte mit verhaltenem Atem. Seine Blicke waren hinausgerichtet in die Nacht und hingen an der finsteren Höhe der Falkenwand. Da blitzte über den steilen Felsen, im schwarzen Mauerstreif, ein Lichtschein auf. Ueber dem Felsensteig hatte sich das Pförtlein geöffnet, und ein Knecht hielt die lodernde Kienfackel über das Gewänd hinaus, um Reckas Weg zu erhellen.

(Fortsetzung folgt.)


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