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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


So erscheint uns die Rechte von Natur aus als die Stärkere, als zum Herrschen Berufene.

Wie kommt es aber, daß trotzdem ein gewisser Teil der Menschen von der Regel abweicht und linkshändig wird? Das Zustandekommen dieser Ausnahmen muß zweifelsohne auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden.

Der römische Jüngling C. Mucius, der den feindlichen König Porsena erstechen wollte, verbrannte sich. um seine Standhaftigkeit zu beweisen, seine rechte Hand; infolgedessen wurde er links und erhielt den Beinamen „Scaevola“, d. h. „der Linkser“. Solche Fälle kann man im Leben häufig beobachten; Leute, die an der rechten Hand Verletzungen davontragen, bilden ihre linke aus. Es ist nun bekannt, daß Erkrankungen oder Verletzungen der rechten Hand oder des rechten Armes bei Kindern im zartesten Alter zur Bevorzugung der Linken und zur Entstehung der Linkshändigkeit führen. Sehr wichtig ist auch die Macht der Nachahmung; Kinder, die mit Linkshändigen verkehren, werden leicht selber links.

Aus allen diesen Ausführungen ersehen wir, daß Linkshändigkeit ein Fehler ist, den wir in der frühesten Kindheit, zumeist jedoch nach dem ersten Lebensjahre erwerben, und daß es in der Macht der Erzieherinnen und Pflegerinnen liegt, die Ausbildung dieses Fehlers zu verhüten.

Anderseits müssen wir die Frage aufwerfen, ob eine ausschließliche Rechtshändigkeit, eine vollständige Vernachlässigung der linken Hand als Vorteil anzusehen ist, oder ob es nicht besser wäre, wenn der Mensch beide Hände gleich geschickt gebrauchen könnte, ein wirklicher Zweihänder würde. Diese Frage wurde schon oft erörtert, aber erst in unserer Zeit erhielt sie eine besondere praktische Bedeutung. Die Unfallversicherung nötigt uns, bei Verletzungen genau den Wert der einzelnen Teile des menschlichen Körpers abzuschätzen. Der Verlust oder die Beschädigung der Hände bringt ja ein gewisses Maß von Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit mit sich, und je nach dem Grade derselben soll dem Arbeiter eine Rente zugesprochen werden; da muß der Wert der Rechten und der Linken genau abgewogen werden.

Von Dr. Becker wurden beispielsweise folgende Sätze vorgeschlagen: den Verlust der rechten Hand sollte man auf 75% der Erwerbsfähigkeit bemessen, den der linken auf 60%; die Baugewerbs-Berufsgenossenschaft gewährt für den Verlust der rechten Hand 70 bis 80%, für den der linken Hand 60 bis 70%; bei der Knappschafts-Berufsgenossenschaft gilt für den Verlust der rechten Hand der Satz von 662/3%, für den der linken 50 bis 60%.

Diese Zahlen beweisen. daß im praktischen Erwerbsleben die Bedeutung der Linken wohl gewürdigt wird, und es erheben sich Stimmen, welche für den Verlust derselben noch höhere Sätze bewilligt haben möchten. „Das Zusammenwirken beider Hände ist für alle Arbeit durchaus notwendig,“ sagt Dr. Becker; „eine fehlende Hand kann deshalb nur unvollkommen durch die andere ersetzt werden, und der Verlust einer Hand ist deshalb schwerer zu fühlen als der eines Auges, weil zum gewöhnlichen Sehen im allgemeinen ein Auge ausreicht. Mit dem Verluste einer Hand geht nicht nur die Arbeitsteilung dieser Hand, sondern auch der ganze Effekt des Zusammenwirkens beider Hände verloren. Zu jeder Arbeit ist das Ineinandergreifen beider Hände notwendig, bei jeder Arbeit hält die eine Hand den Gegenstand fest, um die Einwirkung der andern Hand zu sichern, ja selbst beim Schreiben wird die linke Hand zum Festhalten des Papiers gebraucht, wenn die Rechte die Feder führt. Man scheint diesen Umstand vergessen zu haben, wenn man in einigen Entschädigungstarifen den Verlust der rechten Hand auf 60 und den der linken auf 40% schätzt.“

Man kann diesen Ausführungen nur beipflichten; zu allen Zeiten wurde ja die Linke als die treue Gehilfin der Rechten anerkannt, aber bis in die neueste Zeit hinein wurde die Würdigung des Anteils, den sie in Wirklichkeit am Schaffen des Menschen hat, mit stiefmütterlichem Maß gemessen. Bricht sich die Erkenntnis von der hohen Bedeutung der Linken mehr Bahn, so wird sicher auch der Wunsch erwachen, die treue Gehilfin der Rechten mehr, als dies bis jetzt der Fall ist, auszubilden.

Von anderer Seite wird außerdem noch hervorgehoben, daß die ausschließliche Rechtshändigkeit mit Gefahren für die Gesundheit verbunden sein kann. Wenn namentlich in der Jugend der leicht zu knickende Körper angestrengt und zwar immer rechtsseitig angestrengt werde, so können wohl in der Entwicklung einzelner Organe Störungen hervorgerufen werden. Sicher begünstige die Rechtshändigkeit die Entstehung von Verkrümmungen des Rückgrats und könne bei anhaltendem Arbeilen zu fehlerhaftem Blutumlauf führen und Anlage zur Bleichsucht erzeugen.

Wir wollen diese Thatsachen nicht leugnen, obwohl man sich auch hüten sollte, deren Tragweite zu übertreiben. Man kann ja auch ohnedies aus allgemeinen gesundheitlichen Gründen für eine harmonische Ausbildung beider Körperhälften für eine bessere Uebung der Linken eintreten.

Freilich sind der Leistungsfähigkeit der letzteren Schranken gezogen. Die Linke ist wie wir gesehen haben, nicht durch bloßen Zufall, sondern von Natur aus die „ärgere“, die schwächere Hand. Pädagogen und Erzieherinnen müssen daran denken, wenn sie an deren Ausbildung herantreten.

Oft hört man den Vorschlag, man solle die Kinder auch mit der linken Hand schreiben lehren. Damit wird aber an die vielgeplagte Schuljugend eine neue und, wie wir betonen möchten, recht schwierige Anforderung gestellt Es ist leicht, mit der Linken von innen nach außen, also von rechts nach links zu schreiben, aber alsdann entsteht die Spiegelschrift, die für das praktische Leben unbrauchbar ist. Das Schreiben mit der Linken von links nach rechts in der gewöhnlichen Art ist anstrengend, und man sollte dieses neue Maß von Arbeit den bereits überbürdeten Kindern nicht zumuten wollen. Die Linke hat sich mit anderen geringfügigeren Fertigkeiten zu begnügen. Möge sie z. B. lernen, die Schere ebenso geschickt wie ihre rechte Schwester zu handhaben; das Mädchen wickle zeitweilig das Garn mit der Linken; auch beim Zeichnen kann die Linke einspringen und in der Führung des Stiftes Sicherheit zu erlangen suchen; vor allem sollte sie aber in maßvollen Grenzen beim Turnen und im Spiel mehr zur selbständigen Thätigkeit herangezogen werden.

Schließlich ist noch zu betonen, daß man mit der Uebung der Linken nicht zu früh anfange und die Sache nicht übertreibe; die Kinder können dadurch leicht in den Fehler der Linkshändigkeit verfallen, der wieder schwer oder gar nicht abzugewöhnen ist.

Es steckt gewiß in der vernachlässigten Linken ein Arbeits- und Fertigkeitskapital, das die Menschheit noch ausnutzen kann, aber wir dürfen dabei nicht über das Ziel hinausschießen, dürfen nicht vergessen, daß die fortschreitende Menschheit rechtshändig war und daß in dem veränderten Kampf ums Dasein, den wir inmitten der blühendsten Kultur Tag aus Tag ein führen müssen, nach wie vor die Rechte den siegreichen Ausschlag geben wird.



Die Perle.

Roman von Marie Bernhard.
(10. Fortsetzung.)


Ilse stand auf und griff nach ihrem Hut, der neben ihr auf einem Lacktischchen des Achterdecks lag.

„Schon fort, Prinzeß Ilse?“

„Ich muß, Onkel Erich! Mir wurde es gar nicht leicht, heute von Papa Fuhrwerk zu bekommen, er giebt es so ungern zu Privatzwecken her, obgleich er, wie ich Dir schon sagte, frei verfügen kann. Aber er sieht jetzt alles von dem Standpunkt an, daß er Verwalter fremden Eigentums ist – damit quält er sich unablässig und legt sich die peinlichste Buße auf. Erst als ich ihm sagte, ich wolle einiges für Mama besorgen, erlaubte er mir, zur Stadt zu fahren – diese Einkäufe muß ich aber gleich machen, damit ich noch vor Abend zurück sein kann.“

„Und damit Du sie machen kannst – hier!“ Der Alte zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und drückte es seiner Nichte in die Hand.

„Ach, Onkel –“

„Halt’ den Mund und mach’, daß Du fortkommst! Schreib’ mir ’ne Zeile, sobald Ihr im Verwalterhaus seid, ich miete mir dann ’nen Wagen und fahr’ auf ’ne Stunde oder so hinaus, nach Deiner Mutter zu sehen. Grüß’ mir sie, auch den verrückten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_172.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2020)