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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Die Linke.

Von C. Falkenhorst.


Als Krone der Schöpfung steht der Mensch an der Spitze der lebenden Wesen, und die Naturforscher haben in ihren Systemen für ihn eine besondere Ordnung der Zweihänder geschaffen. Aber dieser vernünftige Zweihänder gebraucht die beiden kunstvollen, ihm von der Natur verliehenen Gliedmaßen nicht gleichmäßig, in der Regel bevorzugt er die Rechte, so daß man schon gesagt hat, der „Zweihänder“ sei in Wirklichkeit ein „Rechtshänder“. Die rechte Hand und der rechte Arm greifen geschickter und kraftvoller in das Getriebe des täglichen Lebens ein, während die Linke ihnen gegenüber schwach und unbehilflich erscheint. Kein Wunder, daß bei allen Völkern die Rechte als das Symbol des Rechts und der Macht gilt, die Linke dagegen als die „ärgere Hand“ betrachtet wird und daß mit dem Ausdruck des Linkischen der Begriff eines Tadels verbunden wird.

Allgemein gültig ist jedoch diese Regel nicht, sie wird sogar von recht zahlreichen Ausnahmen durchbrochen, denn auf Schritt und Tritt begegnen wir Menschen, bei welchen die sonst bevorzugte Rechte gänzlich zurücktritt, die Linke dagegen in vollkommenster Weise zu allen möglichen Hantierungen ausgebildet ist. „Linkshänder“ nennen wir solche Leute, und wir können bei gerechter Prüfung nicht sagen, daß sie in jeder Beziehung weniger leistungsfähig wären als ihre rechtshändigen Nächsten; man findet unter ihnen sehr geschickte Handwerker und sogar Virtuosen und Künstler. So war z. B. der Klaviervirtuos Dreyschock, berühmt durch seine Oktavengänge, ein Linkshänder, und zu den „Linkischen“ hat man neuerdings auch den genialen Künstler und Gelehrten der italienischen Renaissanee Leonardo da Vinci gestellt. Dieser hervorragende Mann, der in kühnem Gedankenfluge seiner Zeit so weit vorausgeeilt ist und so viele der stolzen technischen Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts geahnt hat, hinterließ eine unglaubliche Menge von Manuskripten, die zum Teil noch heute eines würdigen Herausgebers harren. Das Lesen und Prüfen dieser Manuskripte bereitet den Forschern viel Mühe, denn die meisten sind von rechts nach links in Spiegelschrift geschrieben. Früher wollte man diese merkwürdige Thatsache durch die Annahme erklären, daß Leonardo da Vinci auf diese Weise seine Manuskripte für Unberufene unleserlich gemacht und die Spiegelschrift als eine Art Geheimschrift benutzt habe. Dem gegenüber muß man aber doch bemerken, daß die Wahl einer derartigen Geheimschrift dem Scharfsinn eines so großen Geistes keine Ehre machen würde. Viel einfacher ist eine andere Erklärung. Leonardo da Vinci war linkshändig; seine amtlichen oder für Fremde bestimmten Briefe und Manuskripte schrieb er in unserer gewöhnlichen Schrift nieder; wenn er aber für sich arbeitete, wenn neue Gedanken in reichster Fülle sich hervordrängten, dann ergriff die geschicktere Linke die Feder und suchte eilig den Gedankenflug auf dem Papier festzuhalten.

Trotz solcher Beispiele berühmter Linkshänder ist man im allgemeinen dennoch geneigt, die Linkshändigkeit als einen Fehler in der Veranlagung des Menschen zu betrachten, und einige Anthropologen glaubten auch, dies durch Vergleichung dieser Erscheinung bei verschiedenen Völkern beweisen zu können.

Bei den hochentwickelten Kulturvölkern – so etwa lehrten sie – sind Linkshänder selten, während man ihnen unter verschiedenen weniger entwickelten Rassen, wie z. B. unter den Anamiten häufig begegnet; andere Naturvölker, z. B. die Neger Afrikas, sollen sich dadurch auszeichnen, daß bei ihnen die Rechte und die Linke gleichmäßig ausgebildet sind. Es wurde ferner hervorgehoben, daß es unter Idioten und Epileptikern sehr viele Linkshänder gebe – alles Beweise für die Annahme, daß die Linkshändigkeit eine menschliche Unvollkommenheit sei.

Dazu kam noch die Beobachtung der Menschen in verschiedenen Lebensaltern. Delaunay behauptete, daß Neugeborene zuerst linkshändig seien, dann mit gleichem Geschick beide Hände benutzen und daß die Kinder erst später durch Uebung rechtshändig werden; er will auch bemerkt haben, daß im Greisenalter der Mensch nicht mehr in ausgesprochener Weise Rechtshänder sei, sondern beide Hände in gleichem Maße gebrauche, ein Zustand, für den man die Bezeichnung „Ambidexterität“, d. h. „Zweirechtshändigkeit“, erfunden hat. Aus allen diesen Gründen glaubte man folgenden Entwicklungsgang des Menschengeschlechtes annehmen zu dürfen: unsere Urvorfahren sind ursprünglich Linkshänder gewesen, dann in den Zustand der Ambidexterität getreten und zuletzt Rechtshänder geworden, was wir bis auf den heutigen Tag geblieben sind.

Von dem Gedanken ausgehend, daß von zwei entsprechenden Gliedern dasjenige, welches stärker arbeitet, kräftiger und auch schwerer wird, hat man vorgeschlagen, die Arm- und Handknochen der ausgegrabenen Skelette vorgeschichtlicher Menschen zu wägen und auf diese Weise zu ermitteln, ob die Rassen, die zur Eiszeit Europa bewohnten, rechts- oder linkshändig gewesen seien.

Wie anziehend auch solche Untersuchungen sein mögen, so ist es doch viel wichtiger, zuvörderst das Zahlenverhältnis der Linkshänder zu den Rechtshändern unter den lebenden Menschen zu ermitteln. Sehr lehrreich sind in dieser Beziehung Messungen und Untersuchungen, welche Hasse und Dehner in Breslau an 5141 deutschen Soldaten verschiedener Waffengattungen vorgenommen und deren Ergebnisse sie in einer Abhandlung „Unsere Truppen in körperlicher Beziehung“ veröffentlicht haben. Wir erfahren daraus, daß selbst unter dieser Auswahl gesunder und kräftiger junger Männer symmetrisch gebaute Gestalten verhältnismäßig sehr selten sind. In der Mehrzahl der Fälle waren die Beine und Arme ungleich lang, und zwar war gewöhnlich von den Beinen das linke und von den Armen der rechte länger. Gleiche Armlänge war nur bei 18% der Gemessenen vorhanden. Die Erhebungen zeigten ferner, daß 5083 Mann oder 99% Rechtshänder, 58 Mann oder 1% dagegen Linkshänder waren. Bei den Linkshändern war bis auf eine einzige Ausnahme der linke Arm um etwa 1 cm länger als der rechte, während bei den Rechtshändern das Verhältnis sich umkehrte. Auf Grund dieser Thatsachen könnte man die Behauptung aufstellen, daß die Linkshändigen mindestens 1% unserer Bevölkerung betragen. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß wir unter den Soldaten sozusagen die Blüte unserer männlichen Jugend in körperlicher Beziehung vor uns haben. In der großen Masse des Volkes kommt die Linkshändigkeit sicher häufiger vor, und verschiedene Aerzte, die sich mit dieser Frage eingehender beschäftigt haben, nehmen an, daß von 100 Menschen sogar 2 bis 3 linkshändig sind.

Alle diese Erhebungen beziehen sich auf Erwachsene. Prüfen wir Neugeborene, so finden wir, daß diese in der Regel ganz symmetrisch gebaut, ihre Beine und Arme gleich lang und stark und beide Hände gleich geschickt sind, man merkt in der frühesten Kindheit nichts von einer Bevorzugung der Rechten. Die Scheidung in Rechts- und Linkshänder tritt also erst im Laufe des Lebens ein und in Anbetracht dieser Thatsache muß man wohl nach den Gründen fragen, welche die überwiegende Mehrzahl der Menschen zwingen, Rechtshänder zu werden.

Nach einer in wissenschaftlichen Kreisen weit verbreiteten Annahme beruht die Rechtshändigkeit auf Eigentümlichkeiten des Baues und der Einrichtung des menschlichen Organismus. Unsere Eingeweide sind nicht symmetrisch im Innern des Körpers verteilt und namentlich das verletzlichste unter ihnen, das Herz, ist mehr nach der linken Seite verschoben. Im Gegensatz zu den vierfüßigen Tieren und dem in geduckter Haltung kämpfenden Vierhänder bietet der aufrechtstehende Mensch dem Feinde seine Brust zum Angriff dar, und da ist es wohl naturgemäß, daß er die linke Brust, in welcher das Herz liegt, zu schützen sucht, daß er die Rechte zum Organ des Angriffs macht, die Linke zum Schutze gebraucht, daß er seit jeher in der Linken den Schild trug und mit der Rechten Schwert und Speer handhabte.

Außerdem kommt aber noch eine wichtige Thatsache in Betracht. Infolge der Lage des Herzens befinden sich auch die größten Blutadern des Körpers in dem linken Brustraume. Werden nun die Muskeln der oberen linken Extremität in angestrengtere Thätigkeit versetzt, so übt diese einen störenden Einfluß auf den Blutumlauf. Sanitätsrat Dr. Liersch, der eine besondere Schrift über „Die linke Hand“ veröffentlicht hat, bemerkt treffend in dieser Beziehung: „In der That haben mir intelligente linkshändige Menschen wiederholt versichert, daß sie bei angestrengten mechanischen Arbeiten nicht allein Unbehagen, sondern sogar schmerzhafte Empfindungen in der linken Brustseite wahrnehmen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_171.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2020)