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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Da nahm es ihn Wunder, daß Edelrot nicht zu sehen war. „Sie wird im Haus bei der Mutter sein!“ Er eilte über den Hügel empor und trat unter die Thür der Halle. Neben dem Herd saß Mutter Mahtilt im Lehnstuhl und schlummerte; die Nachricht, daß Sigenot zurückgekommen sei, hatte ihre Sorge beschwichtigt, und nach der ruhelosen Nacht, in der dumpfen Schwüle des Nachmittags war in der ersten ruhigen Stunde der Schlaf auf ihre müden Lider gesunken.

„Rötli!“ rief Wicho mit leiser Stimme. Nichts rührte sich in der Halle. Leise schlich sich der Knecht zur Frauenkammer und öffnete die Thüre; die Kammer war leer. Erschrocken eilte er ins Freie und rief den Namen des Mädchens über die Hofreut. Keine Antwort ließ sich hören. Wicho verfärbte sich und griff mit den Händen an die Schläfe. „Ich muß sie finden! Ich muß! Ich muß!“

Er rannte über den Hügel hinunter und riß das Hagthor auf. Gegen das Ufer lief er, gegen den Wald zur Linken, gegen die Ache zur Rechten und schrie mit hallender Stimme: „Rötli! Rötli!“ Doch keine Antwort klang. Nur die Falkenwand schickte den Ruf zurück mit hohlem Echo.




15.

Vor dem Hag des Schönauers schlug eine Faust an das geschlossene Thor und eine Stimme rief: „Thut auf!“ Ein Knecht, der in der Nähe schaffte, lief, um das Thor zu öffnen; er machte verwunderte Augen, als er den Fischer erkannte und ihn gewappnet sah mit langem Schwert, in dem nassen verwüsteten Gewand, mit dem bleichen Gesicht und dem blutbefleckten Arm.

„Wo ist Dein Herr, der Richtmann?“ fragte Sigenot.

„Da drüben unter den Eichen liegt er und schlaft.“

„Schlaft?“ wiederholte der Fischer, als hätte er falsch gehört.

„Er ist außer Haus gewesen die heutige Nacht und die gestrig’ auch.“

Sigenot schritt den Eichen zu. Lang ausgestreckt lag der Schönauer im Schatten der Bäume und hielt im Schlummer das Gesicht auf die Arme gedrückt. Als er geweckt wurde, blickte er mit müden Augen auf. „Du, Fischer?“

„Heb’ Dich auf, Schönauer, jetzt ist nimmer Schlafenszeit!“

Diese Worte waren wohl anders gemeint, als der Schönauer sie verstand. „Ich hab’ zwei Nächt’ nicht geschlafen. Wir haben den Huze gesucht, den armen Buben, der dem Schapbacher die Geißen hütet. Er ist eingestiegen in Wazemanns Bannberg und nimmer heimgekommen. Erst haben wir gemeint, der Bub’ hätt’ sich verstiegen, und haben ihn gesucht zwei Nächt’. Aber heut’ am Morgen, wie wir heimgekommen sind, haben wir hören müssen, was geschehen ist mit ihm. Einer von Wazemanns Knechten hat es ausgeredet. Der Bub’ ist gefangen worden und liegt unter Wazemanns Haus im Bußloch. Die Flechsen haben sie ihm abgestochen ...“

Sigenot lachte zornig auf. „Einen besseren Anfang hätt’st nimmer finden können für die Zwiesprach’, zu der ich gekommen bin. Herr Waze hat fleißige Händ’. Der Bub’ ist abgethan – – jetzt hat er mich in der Arbeit, und wart’ noch einen Tag, Richtmann, so kommt die Reih’ an Dich!“

Erschrocken starrte der Schönauer den Fischer an. „Sigenot,“ stammelte er, „was soll Deine Red’? Und alle guten Mächt’, wie siehst Du aus! Red’ doch, red’, was hat’s denn gegeben?“

„Komm ins Haus!“ sagte Sigenot und schritt dem Schönauer voran, der ihm zögernd folgte, mit scheuem Blick und verstörten Zügen.

In goldenem Glanze lag die Nachmittagssonne über Hof und Haus, die Wiesenblumen dufteten und bunte Schmetterlinge gaukelten über den Hag. Eifrig flogen die Schwalben ab und zu, auf dem Dache girrten die weißen Tauben, und manchmal setzte sich eine der Schwalben zu kurzer Rast und zwitscherte ein leises Lied. Blau und leuchtend wölbte sich die Himmelsglocke über die schimmernden Zinnen der Berge, und der sachte Windzug, der die warmen Lüfte rührte, war wie ein Hauch des traulichen Friedens, den die Erde atmete. In diese Stille der Natur klang zuweilen aus dem Hause der Laut einer heftigen Stimme. Es schien erregte Zwiesprach zu sein, welche die beiden Männer hielten. Immer lauter wurden ihre Worte. Der Knecht im Hof ließ die Arbeit ruhen und lauschte, doch nicht lange; denn Sigenot erschien unter der Thür, mit finsterem Gesicht. Der Schönauer kam ihm nachgeeilt und suchte ihn am Arm zurückzuhalten. „Bleib’, Fischer, bleib’,“ stammelte er. „und bei allem, was Dir lieb und heilig ist ... ich bitt’ Dich, thu’s nicht! Geh’ nicht hinaus zum Lok’stein.“

„Ich thu’, was ich muß!“ erwiderte Sigenot mit bebender Stimme. „Ich hätt’s gethan, auch wenn mir nicht wie jetzt die eigene Not bis an den Hals gestiegen wär’.“

„Thu’s nicht, Fischer! Es wird nichts besser damit, nur alles schlimmer!“

„Ob besser oder schlimmer, das frag’ ich nicht. Ich weiß nur eins: Herr Waze will mir den Weg zum Lok’stein verwehren – so muß es ein Weg sein, der zum Guten führt.“

„Er wirft seinen Zorn auf Dich und Dein Haus. wie er’s mir gedroht hat und meinem Buben. Fischer, Fischer, wie willst Du denn stehen gegen ihn und seine Knecht’?“

„Das laß meine Sorg’ sein! Und ob ich steh’ oder fall’, ich will mich nicht ducken und Umweg suchen wie Du! Wie lang’ mein Weg im Licht noch dauert, das weiß wohl keiner ... aber grad’ soll er sein bis zum letzten Schritt. Ich rat’ Dir nicht; thu’ Du nach Deinem Willen und sorg’ nur, daß keine Reu’ Dich ankommt! Mir aber laß meinen Weg! Der geht hinaus zum Lok’stein!“

„Sigenot! Sigenot!“ jammerte der Schönauer und umklammerte den Arm des Fischers.

„Laß mich! Ich geh’ hinaus! Von ihnen selber muß ich hören, ob sie mit Recht die Herren im Gadem sind. Und sind sie's, so steh’ ich zu ihnen mit Leib und Leben. Ob’s mir hilft, das frag’ ich nicht ... ich hab’ für mich wohl selber noch eine Hilf’“ – er schüttelte die starken Arme – „aber eins weiß ich: den andern wird’s zum Guten sein. Merken sie, daß mein Weg der rechte ist, so gehen mir zwanzig nach, einer zieht den andern, hundert stehen zu den Klosterleuten ... und dann, Herr Waze“ – er hob die Faust und seine blitzenden Augen suchten in der Ferne den Falkenstein – „dann wollen wir sehen, wer Du noch bist mit Deinen Buben!“

„Ich bitt’ Dich, red’ nicht so laut!“ stammelte der Schönauer und blickte mit scheuen Augen nach dem Knecht, der im Hof arbeitete. „Die Lüft’ haben Ohren im Gadem und tragen jedes Wort hinauf in Wazemanns Haus.“

„Fürchtest Du Deinen eigenen Knecht? Richtmann, es ist weit gekommen! Und derselbig’ mag wohl recht haben, der den Spruch gefunden:

‚Lützel Treu ist allenthalben,
Tief im Thal und hoch auf Alben.‘

Aber einen Richtmann, einen muß es doch noch geben, bei dem die Treu’ ist und eine starke Hand wider alle Not. Und den einen muß ich suchen. Ob ich ihn find’ beim Lok’stein ... ich weiß nicht. Aber suchen muß ich, denn wär’ nicht die Hoffnung in mir, daß ich ihn find’ – ich müßt’ ja mit eigener Faust die Mutter erschlagen und mein lieb Geschwister, daß ich ihnen die Schand’ und den Jammer spar’, und müßt hinunterspringen in den See, damit alles ein End’ hat. Wären Not und Neid, Untreu’ und Unehr’ die einzigen, die über uns Macht haben, und gäb’s über ihnen keinen Stärkern mehr, so gäb’s auch für uns keinen Tag nimmer, der den Schnaufer wert ist.“

Der Schönauer starrte den Fischer an und fand kein Wort.

„Warum schaust mich an wie einen Fremden?“ fragte Sigenot. „Weil Du mich so noch nie hast reden hören? Ich will Dir sagen, wie solche Red’ in mich gekommen ist. Schau, Richtmann, an die hundertmal bin ich mit der Angel schon hinaufgestiegen zur Ramsauer Achen. Und da hab’ ich wohl diemal zugesprochen beim alten Hiltischalk und er hat zu mir geredet von seinem guten Himmelsherrn, derweil wir auf der Hausbank in der Sonn’ gesessen. Und einmal, da hat er mir erzählt, wie sein guter Gottesherr ihn gehoben hätt’ aus arger Not. Droben über dem Windacher See hat er eine kranke Alberin heimgesucht, und wie er niedergestiegen ist an der Windach, hat sich der Gründ gelöst unter seinen Füßen. Hinunter in die tiefe Klamm ist sein Fall gegangen, das wilde Wasser hat ihn gefaßt, und da war für ihn kein Retten nimmer und keine Hilf’. Das weißt wohl selber, Richtmann ... die Nachtalfen der Windach haben feste Händ’, wenn sie greifen.“

Der Schönauer nickte und murmelte: „Wen die Windacher Alfen fassen, den lassen sie nimmer aus!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_167.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2020)