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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Die Ringe der Gräfin von Monteval.

Von Eduard Schulte.

Die Geschichte, die wir erzählen wollen, hat sich in Frankreich im Jahre 1620 wirklich zugetragen. Wir schicken diese Versicherung voraus, weil der Leser auf Einzelheiten stoßen wird, die einer ungezügelten Einbildungskraft entsprungen zu sein scheinen, während sie doch durchaus geschichtlich sind.

Die im mittleren Frankreich auf dem rechten Ufer der Saône gelegene Herrschaft Beaujolais gehörte um jene Zeit einem Grafen von Monteval. Sein Schloß Beaujeu lag auf einer Anhöhe, an die das als Hauptort der Grafschaft geltende Städtchen Beaujeu sich anlehnte. Mit seiner schönen jungen Frau lebte er seit zwei Jahren in glücklichster Ehe; da wurde die Dame von einer schweren Krankheit befallen. Ein Fieber, das mit Ohnmachten und Krämpfen wechselte, verzehrte sie. Sie ertrug die heftigen Schmerzen, welche die Krankheit ihr brachte, mit Geduld und Ergebung; die Trostlosigkeit des Gatten, der ihr seine Besorgnisse um ihr Leben vergebens zu verbergen suchte, schien ihr mehr Kummer zu verursachen als ihr körperliches Leiden. Das Uebel verschlimmerte sich sichtlich, nach einigen besonders qualvollen Tagen traten die Anzeichen des letzten Kampfes ein, der Graf und der Arzt verließen die Kranke nicht mehr, und als diese nach dem erfolglosen Bemühen, sich aufzurichten, endlich regungslos zurücksank, sagte der Arzt zu dem seiner Sinne kaum mächtigen Gatten: „Sie hat ausgelitten.“

Nach drei Tagen wurde die Gräfin, nach der Sitte der Zeit mit einer Blumenkrone auf dem Haupte, in ein seidenes Gewand gehüllt und an der rechten Hand mit kostbaren Ringen geschmückt, unter dem Altar der Kirche von Beaujeu feierlich beigesetzt. Das ungünstige Wetter – man war im Dezember – hielt die Bewohner der Stadt von zahlreicher Beteiligung an der Beerdigungsfeier nicht zurück. War doch die Gräfin als Helferin und Trösterin der Armen und Kranken weit und breit geliebt und verehrt gewesen.

Am späten Abend des Beerdigungstages kehrte der Totengräber, der bei der Einsargung der Gräfin beteiligt gewesen war und dann stundenlang vergeblich versucht hatte, sich durch irgendwelche Arbeit einen Nebenverdienst zu schaffen, in seine vor der Stadt gelegene ärmliche Wohnung zurück. Sein kleines Töchterchen öffnete ihm auf sein Klopfen die Hausthür, indem es ihm klagte, daß es Hunger habe. Als er in das einzige Zimmer trat, das den Wohnraum der Familie bildete, erfuhr er, daß seine Frau einem Kinde das Leben gegeben habe. Diese Kunde fiel dem Armen schwer aufs Herz. Stets mit Nahrungssorgen kämpfend, war er zur Zeit völlig mittellos; er hatte nicht einmal Brot im Hause. In stummem Brüten starrte er eine Weile auf seine Frau, auf den Säugling und auf das heranwachsende Töchterchen. Dann erhob er sich, als wäre er plötzlich zu einem Entschluß gekommen, zündete die Handlaterne an, die ihm gewöhnlich beim abendlichen Graben von Gräbern leuchtete, und verließ das Haus mit der Aeußerung, daß er bald wiederkommen werde.

Der Arme lenkte seine Schritte nach der Stadt und durch die einzige Straße, welche der Ort aufwies. Auf dem Marktplatz von Beaujeu, wo unter Häusern, deren Front auf Pfeilern ruhte, ein dem Marktverkehr dienender hallenartiger Gang sich hinzog, blieb er stehen. Wieder unschlüssig geworden, lehnte er sich hier, wo er gegen den Sturm und Schnee der Wintermacht einigen Schutz fand, gegen einen Pfeiler. „Es ist Grabesschändung,“ murmelte er vor sich hin. „Aber Gott wird mir in seiner Barmherzigkeit vergeben. Er weiß, daß ich die That für mich nicht thun würde. Aber daß meine Frau und meine Kinder hungern und gerade jetzt hungern sollen, das kann ich nicht ertragen. Die verstorbene Gräfin war im Leben so gütig. Warum sollte sie mir ihre Diamantringe nicht lassen, die ihr nichts mehr nützen und die meine darbende Familie vor dem Hungertode bewahren werden.“

Er raffte sich auf und ging weiter nach der Kirche zu. Da er bei Aufbahrungen, welche in dem Gotteshause stattfanden, regelmäßig beschäftigt war, so verfügte er über einen Kirchenschlüssel, den er bei sich trug. Auf der Straße war in der vorgerückten Abendstunde und bei dem herrschenden Unwetter niemand zu sehen, und so gelang es ihm, die Thüre aufzuschließen und in die Kirche einzutreten, ohne daß ihn jemand bemerkt hätte. Gespenstisch beleuchtete der schwache Schimmer seiner Laterne den weiten Raum, und obwohl er möglichst geräuschlos vorwärts schritt, hallten seine Schritte doch unheimlich wieder. Einige aufgescheuchte Fledermäuse umschwirrten ihn. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, und als er sich dem Altar näherte, stand er unwillkürlich still. Würde er die Kraft finden, sein Vorhaben auszuführen? Sollte er es nicht lieber noch aufschieben?

Aber was er thun wollte, mußte bald geschehen, denn morgen das wußte er, sollte das Grab der Gräfin geschlossen und versiegelt werden. So ging er vorwärts. Er trat hinter den Altar, hob die dort angebrachte, in die Familiengruft der Monteval führende Fallthür, stieg die nun sichtbar werdende Treppe hinab und gelangte so in den unterirdischen, von Nischen umgebenen Raum, der die Gruft bildete. Der Sarg der Gräfin war in eine Nische geschoben, die noch offen stand; ein jetzt neben dem Eingang der Nische angelehnter Stein sollte am folgenden Tage vor diesen Eingang gerückt werden und ihn so für immer schließen. Der Totengräber setzte seine Laterne nieder, zog ein großes Einschlagemesser hervor, drehte damit die Schrauben des Sargdeckels auf und hob diesen ab. Dann ergriff er die erkaltete Rechte der Gräfin, um ihr die Ringe abzuziehen. Aber das wollte seinen erstarrten und auch ungeübte Fingern nicht gelingen. Nach kurzem Besinne nahm er sein Messer und schickte sich an, die Hand der Gräfin vom Körper zu trennen. Da fühlte er, daß diese Hand, die er fest anfaßte und für den Schnitt zurechtbog, in seiner Hand zuckte. Im ersten Augenblick glaubte er, daß er einer Selbsttäuschung unterliege, die durch seine Aufregung veranlaßt sei. Aber er täuschte sich nicht, die Hand zuckte noch einmal, die Lippen der Gräfin bewegten sich, und sie sagte mit leiser, aber vernehmlicher Stimme:

„O mein Gott, wie das schmerzt!“

Dem Totengräber raubte der Schrecken fast die Besinnung, doch er faßte sich schnell. Er sah, daß die Gräfin scheintot gewesen und jetzt unter Einwirkung des auf ihre Hand geübten Druckes von diesem Scheintod erwacht war. Hatte er bis jetzt die Stimme seines Gewissens gewaltsam zum Schweigen gebracht, ohne sich doch verhehlen zu können, daß er in der Ausübung eines schweren Verbrechens begriffen war, so redete er sich nun gern ein, daß Gott sich seiner zur Rettung der Gräfin habe bedienen und dem Retter und seiner Familie die dankbare Wohlthätigkeit des Grafen habe sichern wollen, und so erschien ihm vermöge einer Nachsicht, welche das menschliche Herz gegen sich selbst so leicht übt, seine Schuld in milderem Lichte. Er ergriff seine Laterne, verließ schleunigst die Gruft und die Kirche und eilte nach dem Grafenschlosse.

Die Gräfin von Monteval befand sich in dem Zustande eines Fieberkranken, der allmählich aus einem häßlichen wüsten, doch sehr lebhaften Traume erwacht und die Grenze, welche die Traumwelt von der Wirklichkeit scheidet, noch nicht sicher wiedergefunden hat.

Sie empfand, daß der Raum dunkel und kalt war, in dem sie verweilte, und sie hörte Seide rauschen, wenn sie sich bewegte; aber das alles konnte doch nur ein Traum sein! Weshalb sollte man sie, die Kranke, die mit so großer Liebe und Sorgfalt gepflegt würde, der Kälte aussetzen? Was für einen Anlaß konnte es geben, einer Kranken ein seidenes Kleid anzuziehen? So fragte sie sich vergeblich, indem sie sich aufrichtete. Sie war, wenn auch mit großer Mühe, imstande, sich von ihrem Lager zu erheben; tastend trat sie aus der Nische in die geräumigere Gruftkammer. Die Schneewolken hatten sich inzwischen verzogen, der Mond war aufgegangen und ein schwacher Strahl fiel durch die Chorfenster der Kirche und die geöffnete Fallthür in die Gruft. Diesem Lichtschimmer folgend, stieg die Gräfin, indem sie ihre ganze Kraft zusammennahm, die Treppe hinauf. Hinter dem Altar hervortretend, ließ sie sich erschöpft auf den Seitenstufen desselben nieder. Jetzt erkannte sie, wo sie war, und die Blumenkrone auf ihrem Haupte, die sie zufällig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_143.jpg&oldid=- (Version vom 24.6.2023)