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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(8. Fortsetzung.)


Sigenot ging mit der Axt auf seinen Jahrbaum zu und Rötli folgte ihm. Dreimal umschritt er den Baum, ihn jedesmal berührend mit der Hand. Dazu murmelte er:

„Der Baum wachst, der Baum lebt, ist gewachsen und steht,
Gradschlächtig und stark, gesund im Mark,
In der Wurzel fest, mit Laub und Aest’.
Heb’ Dich und streck’ Dich, hüt’ Dich und deck’ Dich –
Hast Sonn’ und Regen, nutz’ den Segen!
Wie die Steiner im Bach laufen die Jahr’ einander nach –
Eins gewinnst und eins verlierst –
Halt’ aus, daß die Kerb’ nicht spürst!“

Beim letzten Wort hatte Sigenot die Axt geschwungen und das blitzende Eisen schlug in den dreißigjährigen Baum, daß der schlanke Stamm erzitterte vom Wipfel bis in die Wurzeln. „Aber was thust denn? Was thust denn?“ stotterte Rötli und wollte den Arm des Bruders fassen. Doch da fiel schon der zweite Hieb, die Rindensplitter und Späne sprühten, und weiß, fast bis ins Mark hinein, klaffte am Baum die Kerbe.

„Aber schau doch, schau, Du hast ja Dein Bäuml bis hinein ins Leben geschlagen!“ jammerte Edelrot, und die hellen Zähren traten ihr in die Augen. Sigenot ließ die Axt sinken, starrte die klaffende Kerbe an und murmelte. „Wenn’s der Baum verwindet, verwind’ ich’s auch!“

Er wollte gehen; aber Rötli umklammerte seinen Arm. „Ja was hast denn auf einmal? Was ist Dir denn geschehen? Man möcht’ ja meinen, Du wärst seit gestern ein anderer worden! Ist Dir denn ’was?“

Wortlos schüttelte Sigenot den Kopf; doch als ihm Rötli den Weg vertrat, warf er die Axt beiseite, umschlang die Schwester und drückte sie mit zitternden Armen an die Brust. Sie war so erregt, so erfüllt von Angst und Sorge, daß sie weinen mußte. „Thu’ nicht weinen, Rötli, schau, ich bitt’ Dich, nur nicht weinen thu’!“ flüsterte er und streichelte ihr Haar. „Sei mir nur Du nicht harb, nur Du nicht! Schau, ein andermal vergeß’ ich nimmer, daß ich Dein Bruder bin!“

Sie blickte auf, und als sie ihm in die Augen sah, verstand sie seine Worten und da lächelte sie unter Thränen, hob sich auf die Fußspitzen und faßte sein Gesicht mit beiden Händen. „Wie magst nur denken, daß ich Dir harb sein könnt’! Hast mich denn nicht heimgeholt aus Wetter und Wasser? Hätt’ ich denn nicht versinken müssen ohne Dich? Wir all beid’ miteinander ... ich und die Recka?“ Sie wollte weiter sprechen, doch er drückte sie an sich, daß ihr der Atem fast verging, und schloß ihre Lippen mit einem Kuß. Dann ging er auf das Haus zu und nahm den langen fünfzackigen Näbiger[1] von der Balkenwand.

„Willst denn heut’ noch fort?“ fragte Rötli. „Schau, es geht ja schon auf den Abend zu.“

„Mich leidet’s nicht in der Ruh’, ich muß schaffen!“ sagte er und stieg, den Näbiger auf der Schulter, zum See hinunter.

Mit verlorenem Blick sah ihm die Schwester nach. Langsam streifte sie mit der Hand über die Stirne. „Wenn ich nur wüßt’, was er hat! Ich muß doch den Ruedlieb fragen!“

Sigenot erreichte das Ufer und löste den Waldschragen; mit dem einen Fuß das kleine aus Schilf und Stangen gefügte Floß betretend, stieß er mit dem anderen das leichte Fahrzeug von der Lände ab. Fast lautlos glitt der Schragen über das Wasser hin; mit der Stange des Näbigers trieb ihn der Fischer am Saum des Röhrichts entlang, gegen den Ausfluß der Ache hin, immer langsamer und leiser. Mit scharfem Blick spähte er in die klare Flut, deren nicht allzu tiefer Grund von Moos und Algen wirr überwachsen war; die dünnen blaßroten Stengel der Seerosen durchspannen das Wasser, gleich den Fäden eiues Netzes. Jetzt verhielt Sigenot durch einen Druck der Stange das Fahrzeug. Langsam und lautlos, den straff gespannten Körper kaum bewegend, hob er den Näbiger und drehte allmählich die eisernen Widerhaken nach unten, daß ihre scharfen Spitzen fast den Seespiegel berührten. Er zielte und warf. Das Wasser spritzte auf, und zischend fuhr der Näbiger in die Flut. Mit jähem Ruck riß Sigenot die Stange wieder in die Höhe – der Wurf war geglückt, am Eisen zappelte ein schwerer Hecht. Mit einem flink und sicher geführten Faustschlag tötete Sigenot den Raubfisch, löste ihn von den Haken und warf ihn hinler sich. Dann trieb er den Schragen weiter ...

Die Schatten wuchsen, und der rote Schimmer des Abends leuchtete über dem Thal. Edelrot hatte das zum Bleichen ausgelegte Hanftuch ins Haus getragen. Nun stand sie vor ihres Bruders Jahrbaum; sie füllte die tiefe Kerbe. welche Sigenot geschlagen, mit harzvermischtem Wachs und überband die wunde Stelle dicht mit Bast.

Wicho verließ den Hof, das Lägel auf dem Rücken; er trug die Ferchen davon, welche Sigenot am Morgen gefangen – sie waren für den Schönauer bestimmt, als Zahlung für einen Packen Hanf. Noch vor der Dämmerung erreichte Wicho die Schönauer Felder. Da blieb er stehen und lauschte. Ein leiser sanfter Klang kam aus der Ferne her durch die stille Luft geschwommen ...

Beim Lokistein tönte die Glocke.

Bruder Schweiker zog den Strang und läutete den ersten Feierabend ein. Er trug nicht die Kutte. sondern das Arbeitskleid, den kurzen ärmellosen Leinenjanker, und von allen mochte wohl er selbst des Feierabends und der Ruhe am meisten bedürftig sein. Wie ein Stier, wuchtig und ausdauernd, hatte er geschafft den ganzen langen Tag und mit Hilfe der Knechte ein tüchtiges Stück Arbeit zuwege gebracht. An die dreißig mächtige Fichten lagen am Waldsaum schon gefällt, entästet und zu Balken von jener Länge zerschnitten, wie sie der Klausenbau erforderte. Auch Pater Waldram hatte mitgeholfen bei diesem Werk; doch seinen von Kasteiung und Fasten entkräfteten Körper hatte, lange schon vor dem Abend, die Erschöpfung befallen; beim Schleifen eines Balkens war er ohnmächtig niedergesunken. Man hatte ihn ins Zelt getragen, aufs Moosbett gelegt und mit Trank und Speise gelabt; dann hatte tiefer Schlummer ihn überkommen, aus dem auch der Klang der Abendglocke ihn nicht zu wecken vermochte.

Auch Bruder Wampo hatte nicht gefeiert und manch ein Tröpflein frommen Schweißes vergossen; ihm war es zugefallen, die Zelle aufzurichten, die Mooslager zu rüsten, die Reisighütten für die Knechte und Saumtiere zu bauen, die Ballen auszupacken, ihren Inhalt zu bergen und in trockenem Grund eine Grube auszuwerfen, um darin das Fäßlein mit dem Meßwein und die Mundvorräte zu verwahren. Diese letzte Pflicht seines Amtes hatte er mit der größten Sorgfalt und mit ganz besonderem Eifer erfüllt. Nun stand er zwischen den Zelten beim flackernden Feuer und kochte den Imbiß für den Abend, ein mageres Mahl. Sterz mit Bohnenmus; doppelt mager, denn der Sterz war mit Wasser angerührt. Bruder Wampo hatte es sich und den Seinen wohl besser vermeint; doch als er mit der Kanne durch den Wald davonspringen wollte, hatte ihn Eberwein angerufen: „Wohin, Bruder?“

„Vom Hang dort oben hab’ ich eine Bauernhuf’ gesehen, die nicht gar weit liegt. Ich will hinüberspringen.“

„Weshalb?“

„Um für Gottes Dank ein Kännlein Milch zu begehren. Wir haben Sterz auf den Abend.“

„Bleib’ nur! Wir alle sind müd’ und hungrig von der Arbeit; da wird uns der Sterz auch mit Wasser schmecken!“

„Aber mit Milch ist er besser!“

„Mit Wasser gesünder. Und ich will nicht, daß die Leute im Gadem sagen sollen: Heut’ sind sie gekommen – man merkt’s, denn sie verlangen schon. Wir wollen geben, Bruder, nicht nehmen.“

Bruder Wampo blies die Backen auf und ging mit der Kanne zur Quelle, um Wasser zu schöpfen. „Geben?“ brummte er. „Möcht’ wissen, von was?“ Er warf einen langen Blick zu der Grube hinüber, in welcher die Vorräte geborgen lagen. „Zwei kurze Wochen, und wir haben selber nichts mehr. Dann werden wir halt doch wohl nehmen müssen ... oder die heilige Zeit geht an!“ Er seufzte tief. Als er mit der gefüllten Kanne zu den Zelten zurückkehrte, schien plötzlich auch er, der doch kurz zuvor noch so flink und hurtig gesprungen war, die Müdigkeit zu spüren; denn er ließ das runde Köpflein hängen und schlürfte mit den Füßen. Den Blick zur Seite gewandt, ging er an Eberwein vorüber, der die unterbrochene Arbeit schon wieder aufgenommen.

  1. Fischspeer, dessen langer Schaft zum Fortbewegen des Flosses diente.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_134.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2020)