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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


blieb vor dem Bruder stehen. „Was ich fragen hab’ wollen ... hast um die Mittagszeit das Rollen nicht gehört? Es ist gewesen, wie wenn’s ein Donner wär’.“

„Wohl wohl, und ich hab’ gemeint, ein Wetter käm’; aber es muß sich wieder verzogen haben.“ Er blickte zum Himmel auf. „Es laßt sich kein Wölkl sehen.“

Rötli schüttelte das Köpfchen. „Das ist kein Wetter gewesen ... ich weiß schon, was es war!“ Ihre Stimme dämpfte sich zum Flüstern. „Der Bid ist unmütig geworden drunten in der Seetief’ und hat aufgehaut im Zorn. Wie’s gerollt hat, bin ich drunten gestanden an der Länd’, und da hab’ ich gesehen, wie ein Zittern über den See gelaufen ist, grad so wie übers Wasser in einem Schaff, wenn einer dran hinstoßt mit dem Fuß.“

Sinnend blickte Sigenot hinunter auf den stillen See, über den schon die ersten Schatten des Abends fielen.

„Weißt, ich hab’ gleich was gethan dafür,“ flüsterte das Mädchen, „ich hab’ meine Halskett’ genommen ... sie war mir das Liebst’, was ich an mir gehabt hab’ ... und hab’ sie weit hinausgeworfen ins Wasser. Sie muß dem Bid gefallen haben. Gleich hat er Ruh’ gegeben.“ Sie atmete tief und wollte ins Haus treten. Doch auf der Schwelle wandte sie sich wieder um. „Noch eins! Hast denn vergessen heut’?“

„Was?“

„Daß Du eine Kerb’ in Deinen Jahrbaum schneiden mußt.“ Lächelnd trat sie auf den Bruder zu und faßte seine Hand. „Heut’ ist der Tag, an dem Dich Frau Hul der Mutter gebracht hat. Schau, ich wünsch’ Dir an Glück und Freuden so viel, als ich Haar’ auf dem Scheitel hab’.“

Mit schwermutsvollem Blick schaute Sigenot in das holde Gesicht der Schwester. „Glück und Freuden? Vergelt’s, Rötli! Aber ich mein’ schier, Du hast zu viel gewunschen.“ Er gewahrte die Axt, welche neben der Thür an der Balkenmauer lehnte, und faßte sie. „Komm, ich schlag’ die Kerb’ in meinen Baum.“

„Aber was willst denn mit der Axt?“ fragte Rötli verwundert. „Hast ja Dein Messer.“

„Das hat nicht Schneid’ genug für den heutigen Tag.“

(Fortsetzung folgt.)




Das kurzsichtige Geschlecht.

Man hat wohl allgemein eingesehen, daß die heutige Schule einseitig wirkt, daß sie zu Mängeln führt, welche die Gesundheit der Jugend schädigen. Der Staat hat auf dem Gebiete der Schulgesundheitspflege bereits viel gethan und ist fortgesetzt mit eingehenden Reformplänen beschäftigt. Aber an all dem Unglück, über das man so sehr klagt, an unserem nervösen blassen kurzsichtigen Geschlecht ist die Schule nicht allein schuld; wir wollen nicht abwägen, wer da mehr sündigt, die Schule oder das Haus – nur das eine wollen wir hervorheben, daß alle staatlichen Reformen nichts oder nur wenig nützen werden, wenn nicht auch das Haus reformiert.

Für heute wollen wir uns auf ein Beispiel beschränken, auf die Kurzsichtigkeit der Schüler.

Das Uebel ist eins der ersten, das man in der modernen Erziehung erkannt hat, und man hat es ganz und gar der Schule in die Schuhe schieben wollen. Die Schulkurzsichtigkeit bildet eine Streitfrage, in der die Meinungen heftig aneinander geraten sind; allein bei diesem Streite ist glücklicherweise soviel Sicheres festgestellt worden, daß wir planmäßig Maßregeln zur Verhütung des Uebels ergreifen können.

Kurzsichtige hat es zu allen Zeiten gegeben, aber die Zahl der brillentrageden Leute hat sich erst während der letzten Jahrzehnte in Deutschland überraschend stark gemehrt. Das kommt nun nicht etwa davon, daß die Brille billiger, sondern davon, daß die Augen des jüngeren Geschlechts wirklich geschädigt wurden.

Die Aerzte unterscheiden zwei Hauptformen von Kurzsichtigkeit: die eine umfaßt die höchsten Grade und ist in der Regel mit inneren Augenerkrankungen (Glaskörpertrübungen, Gefäßhautentzündungen etc.) verbunden, sie ist oft erblich; die zweite ist eine erworbene, eine Folge übermäßiger Naharbeit, das heißt einer Arbeit, bei der das Auge dem Gegestand, den es ansieht, zu sehr genähert wird. Gewöhnlich hält sich diese Art der Kurzsichtigkeit in niederen und mittleren Graden, ohne daß innere Augenkrankheiten hinzukommen, sie kann jedoch unter Umständen auch in die erste schwerere Form übergehen.

Aus den vielen Untersuchungen, welche in den Schulen von Fachärzten angestellt wurden, geht unzweifelhaft hervor, daß unsere Kinder vielfach während der Schuljahre kurzsichtig werden; bei den höheren Schulanstalten ist es auch ziffernmäßig erwiesen, daß die Zahl der kurzsichtigen Schüler in den unteren Klasse geringer ist als in den oberen, daß sie von Klasse zu Klasse steigt. Professor Schmidt-Rimpler, der im Auftrag des preußischen Kultusministers die Augen der Schüler an einer Anzahl von Gymnasien untersucht hat, ist dabei zu einem bemerkenswerten Ergebnis gelangt. Er hat zunächst 702 Schüler eines Gymnasiums untersucht und dieselben nach dreieinhalb Jahren einer zweiten Augenprüfung unterzogen; nach dem Maßstab ihrer Leistungen hat er sie hierauf in drei Klassen: die Fleißigeren, die Fauleren und die Faulsten eingeteilt. Nun fand er, daß die Fleißigeren im Durchschnitt etwas häufiger kurzsichtig wurden als die Fauleren; daß aber die faulsten Jünglinge sich mit Erfolg dem Einfluß der Schulschädlichkeiten entzogen hatten, denn von diesen wurde der geringste Prozentsatz kurzsichtig.

Das Schutzmittel der Faulheit entspricht aber weder den Anforderungen der Schule noch den Wünschen der Eltern. Die Schulhygieine muß andere Mittel zur Verfügung stellen, um das Uebel zu bekämpfen. Sie hat zunächst erwiesen, daß die heutige Erziehung der Jugend in der That Kurzsichtige schafft, ferner weiß sie, daß die Kurzsichtigkeit erblich ist, und erblickt darin eine drohende Gefahr für die Nation selbst; daraus leitet sie mit vollem Rechte ab, daß die Forderungen, die sie an die Schule stellt, unbedingt erfüllt werden müssen, selbst wenn die Ausdehnung des Unterrichts darunter leiden sollte; denn es wäre widersinnig, einen gewissen Bildungsgrad des heranwachsenden Geschlechtes durch Schädigung an dessen Gesundheit zu erkaufen. Nun können aber die Vorschriften, die für die Schule zu erlassen sind, nicht wirksam werden ohne ein gleichzeitiges Vorgehen der Eltern. Für diese erwächst die Frage, wie sie zu Hause die Augen ihrer Kinder schützen sollen.

Die nächste Antwort ist die: es muß für richtige Beleuchtung gesorgt werden, und zwar sowohl am Tage, wie abends beim Lampenlicht. Lichtmessungen oder Messungen der Helligkeit eines Arbeitsplatzes werden die Laien nicht ausführen können; für sie muß man ein praktisches Mittel angeben, das eine allgemeine Prüfung der Helligkeit ermöglicht, wenn es auch naturgemäß nicht ganz genau ist. Um also zu entscheiden, ob die Tagesbeleuchtung eines Arbeitsplatzes zu Hause genügend ist, mögen die Eltern, vorausgesetzt, daß sie selbst normalsichtig sind, ein Zeitungsblatt zur Hand nehmen und darin an dem Arbeitsplatz des Kindes einen in kleiner Schrift gedruckten Artikel lesen. Ist das Lesen in einer Entfernung von 30 cm bereits mit Schwierigkeit verbunden, so ist die Beleuchtung ungenügend und man muß einen besseren Arbeitsplatz beschaffen. Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß die Tagesbeleuchtung wechselt; ein Platz, der an hellen Tagen noch gut und zweckmäßig erscheint, wird an trüben Tagen nicht mehr den Anforderungen der Hygieine genügen. Am gefährlichsten sind die Abendstunden. „Wenn die Schüler ihre Arbeiten gemacht haben,“ schreibt Professor Schmidt-Rimpler, „benutzen sie gern die Dämmerung, um sich in ihre Privatlektüre zu vertiefen. Da diese in der Regel aber die jungen Köpfe etwas mehr erregt als die Schularbeiten, so kommt noch zu dem angestrengten Sehen die geistige Anspannung und der dadurch bedingte stärkere Blutandrang nach dem Kopfe hinzu. Es muß daher besonders darauf Gewicht gelegt werden, daß in der Dämmerung jede Augenarbeit überhaupt fortfalle. Man verdunkle nötigenfalls etwas früher und zünde Licht an.“

Damit stehen wir vor der Frage der künstlichen Beleuchtung im Hause. Professor Hermann Cohn hat die Bedingungen einer zweckmäßigen künstlichen Beleuchtung dahin zusammengefaßt: das Licht soll nicht blenden, nicht zucken, nicht zu heiß und nicht zu schwach sein. Die Petroleumlampe, wie sie jetzt gebräuchlich ist,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_122.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2023)