Seite:Die Gartenlaube (1894) 116.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Fürst Bismarck in Berlin.

(Zu den Bildern S. 101, 112 und 113.)

In unser aller Gedächtnis leben noch die Ereignisse, die den Altreichskanzler Fürst Bismarck am Vorabend des kaiserlichen Geburtsfestes aus der Stille seines Sachsenwaldes nach Berlin geführt haben. Dort in der Reichshauptstadt ist ihm ein Empfang bereitet worden, wie er feuriger und großartiger kaum gedacht werden kann, wohl wert, auch im Bilde festgehalten zu werden.

Lange vor der für die Ankunft festgesetzten Zeit flutete eine festliche Menschenmenge durch die Straßen, durch welche der Fürst seinen Weg vom Lehrter Bahnhof zum königlichen Schlosse nehmen sollte. Flaggenschmuck überall, auch an den Staatsgebäuden, ein heller Sonnenschein gießt seine freundlichen Strahlen über das buntbewegte Bild. Auf dem Bahnhof trifft gegen die Mittagsstunde Prinz Heinrich in Marineuniform ein, den Gast in seines kaiserlichen Bruders Namen zu empfangen. Als der Zug in die Halle einfährt, tritt Prinz Heinrich mit einem kleinen Gefolge hinaus auf den Bahnsteig und eilt auf den bereits am Fenster stehenden Fürsten zu. Raschen Schrittes verläßt dieser, in Kürassieruniform mit den Abzeichen eines Generalobersts, seinen Wagen, umarmt in herzlicher Begrüßung den Prinzen und drückt ihm die Hände, worauf beide miteinander, Bismarck auf Prinz Heinrichs linken Arm gestützt, durch die lorbeer- und teppichgeschmückte Halle dem Ausgang zuschreiten, hinter ihnen die Herren des Gefolges, denen sich auch die Begleiter des Fürsten auf seiner Reise, der kaiserliche Adjutant Major v. Moltke, Graf Herbert Bismarck und Professor Schweninger, zugesellt haben.

Immer dichter haben sich unterdessen auf der Strecke vom Lehrter Bahnhof zum Brandenburger Thor und von da über die Straße „Unter den Linden“ bis zum königlichen Schlosse die Massen gestaut. Endlich, endlich ist auch für sie der Augenblick gekommen, da der sehnlichst erwartete Wagenzug mit seinen Gardekürassieren an der Spitze herannaht. „Er kommt! Er kommt!“ Mit fieberhafter Erregung erfüllt das Wort die Hunderttausende; an den Fenstern, auf den Balkonen, selbst auf den Dächern recken sich die Hälse, und die Kanonen an der Königswache werden von kühner Jugend mit stürmender Hand genommen. Freilich der kühle Januarwind hat dem Fürsten die Notwendigkeit auferlegt, im geschlossenen Wagen zu fahren, und so ist es nur wenigen möglich, den großen Mann auf eine kurze Spanne Zeit von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Aber trotzdem umgiebt ihn ein Blumenregen, ein Hurrarufen, ein Grüßen und Hüteschwenken, ein so namenlos stürmischer Jubel, daß tiefe Rührung den Gefeierten wie die Feiernden überwältigt.

Der Wagen hält vor dem königlichen Schlosse. Wie es sonst beim Besuche eines gekrönten Hauptes geschieht, steht dort eine Ehrenkompagnie. Bismarck schreitet mit dem Prinzen Heinrich die Front ab; dann tritt er hinein in das Schloß. Und nun steht Bismarck vor seinem Kaiser. In der herzlichen Begrüßung, mit welcher dieser seinen erlauchten Gast empfängt, finden die Ereignisse dieses historischen Tages ihre Spitze.

Es würde uns zu weit führen, wollten wir alle die Aufmerksamkeiten, Huldigungen und Ehrenerweisungen im einzelnen schildern, mit denen die Bevölkerung Berlins im Wetteifer mit dem Hof, den anwesenden deutschen Fürstlichkeiten und den obersten Beamten des Reichs den Altreichskanzler an diesem Nachmittage umgaben. Genug, des Jubelns und Grüßens war kein Ende vor den Fenstern von Bismarcks Wohnung, und es steigerte sich noch einmal zu gewaltigen Wogen an, als der Fürst am Abend, vom Kaiser selbst geleitet, nach dem Bahnhof zurückfuhr, um in seinen Sachsenwald heimzukehren.

Ob das Ereignis vom 26. Januar politische Folgen haben werde oder nicht, darüber zerbrechen sich die Politiker nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt die Köpfe, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Darin aber sind alle deutschen Patrioten, welcher Partei sie auch angehören mögen, einig, daß der 26. Januar, der Tag, an welchem das Eis zwischen unserm jungen Kaiser und seinem alten Reichskanzler, dem Begründer der deutschen Einheit, schmolz, für alle Zeiten zu den Freudentagen des deutschen Volkes gezählt werden wird.


Blätter und Blüten.


Farbiges Fühlen. Es giebt Menschen, bei welchen durch Töne Farbenempfindungen geweckt werden. Ein bestimmter Ton oder Laut ruft bei ihnen die Empfindung einer bestimmten Farbe hervor; sie stellen sich das a rot, das e gelb vor etc. Dieses farbige Hören ist schon seit geraumer Zeit bekannt und bildete den Gegenstand weitgehender Untersuchungen. Jüngst ist nun von ärztlicher Seite beobachtet worden, daß auch Tastempfindungen zu Farbenvorstellungen Anlaß geben können. Hysterische Personen leiden zuweilen an Unempfindlichkeit der Haut. Als nun Dr. Dantec bei einer solchen Kranken die betreffenden Hautstellen auf deren Empfindlichkeit prüfte, fand er, daß sie bei Stichen u. dgl. keinen Schmerz fühlte, dafür aber Farben sah. Band man ihr die Augen zu und stach sie, so behauptete sie, grüne Farbe zu sehen. Zwicken setzte sich in blaue, Erhitzen oder Brennen in rote Farbe um. Das Wesen dieser eigenartigen Erscheinung vermag man noch nicht zu deuten, aber unser Wissen ist um die Kenntnis der Thatsache bereichert, daß es neben dem farbigen Hören auch ein farbiges Fühlen giebt. *

Kunststücke auf dem Eise. (Zu dem Bilde S. 105.) Wenn ein scharfer Frost die weiten Wasserflächen in der Umgebung unserer Reichshauptstadt mit spiegelglatter Decke überzieht, dann blüht für die Berliner der Eislauf in allen Formen auf. Und wie der Sport sich jeder körperlichen Uebung bemächtigt, so macht er auch im Gebiete des Schlittschuhlaufens sich geltend; zahlreiche Eislaufvereine haben sich gebildet, welche großartige Wettläufe veranstalten wie die Rudervereine ihre Regatten. Neben den Deutschen sind die in Berlin ansässigen Holländer, Norweger und Engländer besonders eifrige und kunstfertige Teilnehmer an diesen Veranstaltungen. – Sehenswerter und unterhaltender als der gewöhnliche Schnelllauf ist der Kunstlauf auf dem Eise; was darin, besonders von den Norwegern, vollbracht wird, ist geradezu erstaunlich. Unser Zeichner hat auf seinem Bilde einige der hervorragendsten Leistungen zusammengestellt, die es begreiflich machen, daß Schaulustige sich in Massen um die Künstler sammeln. Da setzen diese in weitem flachen Schwung über zusammengeschaufelte Schneewälle weg, sie veranstalten Reiterkämpfe oder ein sogenanntes Bockspringen; da springt einer ohne Anlauf über Stühle, die dicht hintereinander aufgestellt sind, ja die größten Meister bringen es fertig, einem aufrecht stehenden Genossen frischweg über den Kopf zu setzen. Daß es dabei auf dem glatten Element auch einmal nicht „glatt“ abgeht, ist natürlich; doch was erträgt man nicht um des Vergnügens willen und um das prickelnde Gefühl, von einer ehrfürchtig staunenden Menge als ein Meister bewundert zu werden!

Bierleiter. Der übermäßige Trunk ist ein uraltes Nationallaster der Deutschen, dem besonders im 15. und 16. Jahrhundert aufs stärkste gefrönt wurde. Namentlich das Zutrinken war zu einer Landplage geworden, gegen welche die Obrigkeiten zwar einschritten, aber ohne daß sie eine wesentliche Besserung herbeizuführen vermocht hätten. Ja, manchen Ortes war das Zutrinken in ein förmliches System gebracht worden, wie eine kleine Leiter des 16.–17. Jahrhunderts bezeugt, die sich jetzt im Museum zu Breslau befindet. Der Vortrinkende einer Zechgesellschaft steckte sie in sein Trinkgefäß und trank so und so viel Sprossen seinen Kumpanen vor. Jeder derselben mußte ihm das gleiche Quantum nachkommen, und zur Feststellung, daß dies auch wirklich geschehen sei, wurde wieder die Bierleiter benutzt.

Londons Straßenverkehr. Wer London nicht gesehen hat, vermag sich nur schwer einen Begriff von dem Straßenverkehr der Millionenstadt zu machen. Der Mittelpunkt der Stadt, die sogenannte „City“, die vorwiegend Asphalt- und Holzpflaster hat, gehört – abgesehen von den kleineren Fuhrwerken – den Omnibus, die man oft gleich zu dreien neben- und hintereinander fahren sieht, soweit das Auge reicht. Die größte Londoner Omnibusgesellschaft, die „London General Omnibus Co.“ besitzt allein 1000 Fahrzeuge mit 10 000 Pferden. Man schätzt die Zahl der Omnibusreisenden auf 10 Millionen jährlich, wobei etwa 32 Millionen Kilometer durchfahren werden. Sämtliche Wagen haben Verdecksitze, auf denen auch Frauen Platz nehmen.

Nach den äußeren Stadtgegenden hin treten die Pferdebahnen in ihre Rechte, an deren Betrieb dreizehn Gesellschaften beteiligt sind. Die Länge ihres Schienennetzes beläuft sich auf 216 Kilometer, davon sind 56 Kilometer zweigeleisig. Sie befördern jährlich 190 Millionen Reisende und ihre Einnahmen dafür beziffern sich auf etwa 20 Millionen Mark. Die durchschnittliche Tagesleistung eines Pferdes beträgt 19 Kilometer bei 21/2- bis 3stündigem Dienst. Nach etwa 7 Jahren wird das Pferd dienstunfähig.


Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (6. Fortsetzung). S. 101. – Vom Einzug des Fürsten Bismarck in Berlin: „Er kommt!“ Bild. S. 101. – Kunststücke auf dem Eise. Bild. S. 105. – Luftballon und Flugmaschine. Bilder aus dem Reiche der Flugtechnik. Von W. Berdrow. S. 106. Mit Abbildungen S. 106, 107, 108 und 109. – Zwei thüringer Volkslieder. Von Elise Polko. S. 109. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (6. Fortsetzung). S. 111. – Vom Einzug des Fürsten Bismarck in Berlin: Der Empfang auf dem Lehrter Bahnhof. Bild. S. 112 und: Unter den Linden. Bild. S. 113. – Fürst Bismarck in Berlin. S. 116. (Zu den Bildern S. 101, 112 und 113.) – Blätter und Blüten: Farbiges Fühlen. S. 116. – Kunststücke auf dem Eise. S. 116 (Zu dem Bilde S. 105.) – Bierleiter. S. 116. – Londons Straßenverkehr. S. 116.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_116.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2023)