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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. Schlecht! Er brennt, wie Fink sagt, bis zwölf, ein Uhr nachts die Lampe auf seinem Zimmer und morgens ist er um vier Uhr außer Bett und sieht dann aus, als ob er überhaupt nicht geschlafen hätte. Dabei ißt er wenig und redet bei den Mahlzeiten kaum ein Wort. Den ganzen Tag reitet er auf dem Gut herum, von einem Ende zum andern, daß die Pferde es kaum aushalten, und als ich ihn bat, das zu unterlassen, da hat er mich groß angesehen. ‚Lassen? Wie ist das möglich? Ich muß doch Abschied nehmen, Abschied von der ‚Perle‘, die mir nicht länger gehören soll.‘ Und vorgestern, als es regnete. da hat er die ganze Zeit im Archiv gestöbert und all die alten Urkunden aufgerollt und gelesen – ich sah durchs Schlüsselloch. Des Nachts, sagt Fink, ist er ein paarmal aufgestanden, mit Licht in den Ahnensaal hinaufgegangen und stundenlang oben geblieben. Ach, Herr Landrat, wenn mein Vater die ‚Perle‘ hingeben, wenn er von ihr fort muß – das überlebt er nicht!“

„Na, na – hm!“ Der Landrat runzelte unmutig die Stirn und klopfte mit der Rechten begütigend auf Ilses Hand. Er war so gern lustig, alle Rührscenen waren ihm zuwider. „Fort von hier?“ wiederholte er nach einer kleinen Pause Ilses Worte. „Ich glaub’ auch, er hält das nicht aus. Eben darum müssen wir sorgen, daß er hier bleiben kann.“

„Aber wird – wird der neue Herr das wollen?“ warf Ilse furchtsam dazwischen. Melchior nickte nachdrücklich. „Gewiß wird er wollen, wenn ihn jemand vernünftig drum angeht. Der Jemand darf aber beileibe nicht Ihr Papa sein – der ist viel zu aufgeregt und reizbar, auch zu stolz, würde denken, seiner Würde allerlei zu vergeben. Es muß gesorgt werden, daß er mit der ganzen Sache nichts weiter zu thun bekommt, daß im Gegenteil Herr von Montrose ihn bittet, hier auf dem Gut zu bleiben. Und dazu müssen Sie helfen Fräulein Ilse – ich bin deswegen hier!“

„Ich? Aber wie soll – wie kann ich auf diesen fremden Herrn irgend einen Einfluß üben?“

„Ruhig Blut, Kind, lassen Sie ’mal Ihren alten Freund ausreden! Keinen Einfluß auf den fremden Herrn, sagen Sie? Na, wenn Sie nicht, wer sonst?“ Der Landrat schmunzelte und sah seiner jungen Nachbarin mit unverstellter Vewunderung ins Gesicht; Ilse schüttelte abwehrend den Kopf. Na, gut, ich sehe, Sie sind nicht in der Stimmung, angenehme Dinge von mir zu hören. Also zur Sache! Ich weiß, hab’ es aus ganz zuverlässiger Quelle erfahren, daß Montrose nicht selbst wirtschaften will, was ich nur billigen kann, denn er hat offenbar von der ganzen Geschichte keine blasse Ahnung. Er sucht einen zuverlässigen Administrator, der die hiesigen Bodenverhältnisse kennt, der die Sache mit Lust und Eifer, und selbstredend auch mit Erfolg, anpackt und die ‚Perle‘ wieder zu dem macht, was sie ursprünglich gewesen ist, zum Prachtstück der ganzen Umgegend. Daß Ihr Vater wirtschaften kannm wissen wir allem Montrose wird es auch wissenm und jederm der gerecht denktm kann es ihm bestätigen. Nur muß Ihr Vater eben in einen vollen Geldsack greifen können, dann bringt er die ‚Perle‘ in die Höhe, so wahr ich hier neben Ihnen sitze! ’s ist ja natürlich traurig, daß er das für einen Fremden, nicht für sich selbst und die Seinigen thun kann, aber Heimat bleibt Heimat. Bringen wir ihn fort von hier – ich glaube wahrhaftig, er erträgt es nicht. Sagt Montrose Ja – und warum sollte er es nicht? – dann bleiben Sie alle hier und sehen zu, wie es geht. Ihre Mama soll ja ohnehin nicht transportiert werden – die paar Hundert Schritt bis zum Verwalterhaus aber werden ihr nichts schaden. Schwindelt ihr irgend etwas vor, was ihr diese Uebersiedlung glaubhaft macht: Anbau oder Umbau im Schloß, Schwamm in den Wänden – was weiß ich! Nun also, Fräulein Ilse?“

Sie saß da, tief in Gedanken versunken, und sah von ihm weg in die blaue Luft hinein. Der Landrat, ein „positiver“ Mensch, wie er sich gern selbst zu nennen pflegte, ärgerte sich ein wenig über sie. Was hatte sie denn jetzt so träumerisch vor sich hin zu sinnen? War jetzt die Zeit, zu träumen? Aber er that ihr unrecht. Ilse wußte ganz genau, was der Landrat von ihr wollte, sie war sich der Tragweite der Sache sehr wohl bewußt. Daß sie thun mußte, was in ihren Kräften stand, dem Vater zu helfen, ihm das Peinliche seiner Lage zu erleichtern, das verstand sich von selbst. Aber wenn sie sich das Gesicht des Mannes vergegenwärtigte. das sie vor einigen Tagen plötzlich so nahe sich gegenüber gesehen hatte, dann kam ein Schrecken über sie, eine Scheu, die sie sich gar nicht zu erklären wußte. Deutlich hörte sie eine Stimme in ihrem Innern, die sie warnte: thu’s nicht, thu’s nicht! Das ließ sie so sinnend vor sich hinsehen – sie versuchte es, klar über sich selbst zu werden, und vermochte es doch nicht.

Als der Landrat neben ihr sich stark räusperte, wandte sie den Kopf und schaute ihm ins Gesicht. „Verzeihen Sie! Was müssen Sie von mir denken! Selbstverständlich geschieht, was Sie wünschen.“ Sie seufzte beklommen.

Melchior klopfte von neuem ermunternd auf ihre Hand. „Aber Fräulein Ilse, wer wird denn dazu einen so tiefen Seufzer herausholen? Was ist’s denn schließlich Großes? Der Mann kann doch nicht mehr wie Nein sagen – ich wette indessen, er sagt Ja, wenn Sie so vor ihn hintreten, ihn mit diesen Ihren Sonnenaugen anstrahlen und sagen: ‚Verehrter Herr, so und so liegt die Sache, und mein Papa ist ein tüchtiger Landwirt, fragen Sie die ganze Nachbarschaft!‘ ... na, straf’ mich Gott, da müßt’ es doch mit dem Bösen zugehen, wenn die Geschichte nicht glatt durchginge und der Vertrag aufgesetzt würde!“

Sie sah ihn dankbar an und lächelte ein wenig über seinen Eifer. „Kennen Sie Herrn – Herrn von Montrose näher?“ fragte sie leise.

Gott bewahr’ mich! Ich bin ein halb Dutzend Mal oder so mit ihm zusammen gewesen, geschäftlich, auch privatim, aber kennen? Keinen Schatten, der ist undurchdringlich! Nun, für Sie hat das weiter nichts auf sich, Fräulein Ilse – ein vornehmer Herr ist er bei alledem und Manieren hat er auch. Also hübsch alles eingefädelt, damit er dem Papa die Stelle auf ‚Perle‘ gleichsam auf dem Präsentierteller anbietet – in einer guten halben Stunde können Sie ihn hier haben!“

„Heute? Jetzt schon? So bald?“

„Je eher, desto besser! Lassen Sie den Papa, wo er ist – zum Abschluß kommt es heute ohnehin nicht. Wie ich mir hab’ sagen lassen, will Herr von Montrose heute das Gut seinem Sohn und seiner Tochter samt Bräutigam zeigen – hören Sie, Ilschen, der junge Montrose, das soll ein schlimmer Don Juan sein, der wird schön ins Zeug gehen, wenn er Sie zu sehen bekommt, aber ich hoffe, Sie bleiben feuerfest. So! Das überlegene Lächeln, das Sie jetzt eben hatten, das zeigen Sie dem Junker nur, das wird ihn abkühlen. Adieu, Ilschen!“

Ilse griff unwillkürlich nach seiner Hand. „Sie bleiben nicht hier? Ich soll allein –“

Er lachte gutmütig auf. „Ein schlechter Diplomat wär’ ich, wenn ich Ihnen helfen wollte! Davon, daß ich meine Hand im Spiel gehabt habe, soll ja der Herr gar nichts merken. Sie hätten gehört und so weiter und ergriffen nun die Gelegenheit ... aber was soll ich Ihnen denn Vorschriften machen? Sie sprechen ja wie ’n Buch, das weiß ich. Also Glück zu! Bekommt der Onkel Landrat keinen Kuß zum Dank?“

Ilse mußte lachen. „Sie haben eigentlich nichts von einem Onkel an sich!“

„Hab’ ich nicht? Aber, Ilschen, ich weiß genau, ich hab’ Sie einmal auf dem Arm gehabt, als Sie knapp sechs Jahre alt waren. So lange kennen wir uns schon. Und damals bekam ich meinen Kuß ohne jede Einwendung.“

„Wirklich? Nun also!“ Ilse hob ohne jede Ziererei ihr Gesicht zu ihm auf, und der Landrat küßte sie bedächtig und gemütlich auf den Mund.

„Sehr schön, Ilschen, sehr schön! Sie sollen bedankt sein!“ Er schüttelte ihr herzlich die Hand, und sie stiegen zusammen die Stufen des kleinen Tempels herab. Ilse begleitete den Landrat bis zum Schloßhof und gab Fink den Auftrag, sie von der Ankunft der zu erwartenden Gäste in Kenntnis zu setzen. Melchior, ein paar schöne Rosen in der Hand, die Ilse ihm noch in der Eile für seine Frau mitgegeben hatte, schwenkte fröhlich den Hut beim Abfahren, während Ilse mit gesenktem Kopf in den Garten zurückging.

„Kunze!“ sagte der Landrat zu seinem Kutscher, als der Wagen um die Parkecke bog. „jetzt fahren Sie den Landweg bei Neumühlen herum, ’s ist zwar ein nichtswürdiges Fahren dort, und mein armes Kreuz wird es spüren, aber ich hab’ meine Gründe dazu.“

Kunze brummmte in nicht sehr verbindlichem Ton etwas Unverständliches in den Bart, und lenkte rechts ein. Sein Herr lehnte sich beruhigt in die Wagenecke zurück – er wußte, daß er Herrn von Montrose auf diesem Wege nicht begegnen würde.

(Fortsetzung folgt.)


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