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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

zum Lobe seines Gutes, zur Erläuterung seiner Bewirtschaftung sagen mußte, that ihm beinahe körperlich weh, die eigene Stimme klang ihm hohl und fremd. Wie ein Träumender schritt der unglückliche Mann durch den Wald und hörte den Specht klopfen und den Kuckuck rufen wie damals, als er seinen Sohn hier traf, seinen einzigen Sohn, der nie das Erbe seiner Väter antreten sollte! Aus dem feuchten Waldboden quoll würziger Duft, fernher brauste die See mit tiefem ernsten Klang, und das Birkenlaub bebte im flüchtigen Windeshauch. Scheu wandte der Baron sein Haupt: kamen dort nicht in langem Zuge, unhörbar herangleitend auf dem weichen Moosboden, die Ahnen seines Hauses hinter ihm her, den Stammherrn Hans Gottfried in Harnisch und Eisenhut an der Spitze? Er kannte sie ja aus der Ahnengalerie, alle diese Gestalten, die jetzt drohend die Augen auf ihn gerichtet hielten. Weh’ Dir, was wagst Du zu thun? Einen Fremden willst Du schalten und walten lassen auf dem Grund und Boden Deiner Väter, und Du lebst noch? Du erträgst dies? Die „Perle“ willst Du hingeben, die Dein Urahn, der Stammvater Deines Geschlechts, einst aus der Hand seines Landesfürsten erhielt als ein unvergängliches Zeichen von dessen Huld und Gnade? – Wie mit glühenden Buchstaben geschrieben, verfolgten den Erregten plötzlich die Anfangsworte jener Schenkungsurkunde, die er so oft mit stolzer Freude sich eingeprägt hatte, die ihm nun zur Qual wurden: „Und maßen Du, Hans Gottfried Doßberg, mir hast beygestanden in schwerer Lebensgefahr und hast mich gedecket mit Deinem eigenen Leibe und mich errettet aus großer Todesnoth, darumb also will ich für Dich und Dein nachkommend Geschlecht seyn ein fürsorglicher Landesvater und will geben als fürstliches Gnadengeschenk Dir wie Deiner Sippschaft als meiner großen Huld und Dankbarkeit allewigen Beweys aus meyner Krone Ländern die Perle. Als welche gemeynt sei das Stück Landes ostwärts von Niederdamm bis zum Meer, mit Eynschluß von Wald und Wieswuchs, von Feld und Moor, und was sunsten noch zu benamsetem Länderstrich gehöret. Und soll unser Kanzler Dir festmachen die Schrift sammt Schenkbrief und Insiegel, also daß keines Menschen Hand an dies Dein geschenktes Eigenthum habe zu rühren. Und soll forterben auf Kind und Kindeskind, ein bleibend Angedenken –“

„Soll forterben auf Kind und Kindeskind, ein bleibend Angedenken,“ wiederholte der Baron flüsternd. Er zog sein Taschentuch heraus, trocknete sich die glühende Stirn und stammelte entschuldigend mitten in eine Auseinandersetzung über den Waldbestand, es sei ihm so schwül und die Luft unter den Bäumen so drückend.

Herr von Montrose war nicht nur ein höflicher, er war auch ein vorsichtiger Herr. Er sprach auch jetzt wenig, verhielt sich nicht zustimmend, aber auch nicht ablehnend und ließ in keiner Weise merken, ob ihm das Gut zusage oder nicht. Er hörte sehr aufmerksam zu, wenn Doßberg oder der Landrat eine Erklärung abgaben, machte sich viele Bemerkungen in sein Taschenbuch und warf ab und zu eine kurze Frage dazwischen, die wohl von Verstand, aber oft von wenig landwirtschaftlicher Erfahrung Zeugnis ablegte.

Der Justizrat langweilte sich beträchtlich während der ganzen Fahrt. Er gab sich zwar das Aussehen eines Sachverständigen und ließ zuweilen eine etwas dunkel klingende Phrase hören, war aber im übrigen bemüht, die Besichtigung möglichst abzukürzen. Endlich konnte er getröstet aufatmen – die Hauptpunkte waren erledigt, man fuhr nach dem Schloß zurück. Doßberg hatte den Herren ein Frühstück auf seinem Zimmer angeboten, ehe man an die Durchsicht der Bücher ginge. Sorau sah verstohlen nach der Uhr: gleich halb Zwei – unglaublich, wie eine solche Gutsbesichtigung aufhielt!

Im Schlosse angekommen, setzten sich die Herren um den runden Eichentisch im Arbeitszimmer des Barons, das im Erdgeschoß gelegen war. Selbst der muntere Landrqt war verstummt, so hungrig und übermüdet fühlte er sich und so drückend war ihm die ganze Lage der Dinge. Erst der wohlbcsetzte Frühstückstisch regte seine erschlafften Lebensgeister wieder an.

„Auf glückliches Zustandekommen unseres Unternehmens!“ sagte Sorau verbindlich und nähertn sein gefülltes Weinglas dem des Herrn von Montrose, der ihm mit seinem ruhigen unbewegten Gesicht Bescheid that.

„Der Teufel soll mich reiten,“ dachte der Landrat, „wenn ich weiß, ob dieser Halbfranzose nun eigentlich will oder ob er nicht will! Statt eines ehrlichen Menschengesichtes sieht man ein Buch mit sieben Siegeln vor sich, die reine Sphinx!“

Der Fremde hatte seinen Platz dem Fenster gegenüber und ließ den Blick verloren über den Hof schweifen. Plötzlich hob er interessiert den Kopf. Da draußen bot sich ihm ein wunderbares Bild. Von der linken Seite, von dort, wo an der Auffahrt der Weg ein wenig abschüssig angelegt war, kam in vollem Lauf ein kleines drei- bis vierjähriges Mädchen. Es war ländlich gekleidet, aber zierlich und nett – ein hübsches dralles Geschöpfchen. Lachend und jauchzend, die kleinen nackten Arme emporstreckend, sprang es daher, so schnell die Füßchen es nur tragen wollten, die Augen auf ein Ziel geheftet, das zweifelsohne die Ursache seiner Glückseligkeit bildete. Auf den Weg achtete die Kleine nicht im mindesten, und so kam es, daß sie stolperte, taumelte und offenbar zu Fall gekommen wäre, wenn nicht eben jetzt von der andern Seite eine junge Dame erschienen wäre, die sich hastig niederbeugte, die Wankende in ihren Armen auffing und gleich darauf, um sie den Schreck vergessen zu machen, hoch emporhob und küßte. Welch eine Erscheinung, welch ein Gesicht! Das schneeweiße Kleid, das offene, lang herabfallende Goldhaar, durch ein blaues Band im Nacken zusammengefaßt, konnte fast ein wenig theatralisch erscheinen, aber der reizend unbefangene Ausdruck des Gesichtes, das dem Beobachter am Fenster ganz nahe war, hob den phantastischen Eindruck ganz und gar auf.

Ilse war bei der kranken Mutter gewesen, hatte einen langen Brief geschrieben, selbst die Vorbereitungen zu dem Frühstück für die Herren übernommen – und endlich hatte sie an ihre Blumen gedacht und war in den Garten gelaufen, sie zu holen. Es war schön im Freien, die Sonne hatte sich schüchtern hervorgewagt. Da war Ilse tief und tiefer in den Park gegangen, und als sie nun umkehrte, ahnte sie nichts davon, daß die Herren bereits zurück waren und in ihres Vaters Zimmer saßen. Sie sah nur das Töchterchcn ihrer Wirtschafterin, einer jungen Witwe, jauchzend auf sich losstürmen – sie liebte das zutrauliche Kind sehr, und die Kleine vergalt ihr das mit ungestümer Zärtlichkeit – Trudchen drohte zu fallen, und so fing Ilse sie rasch in ihren Armem auf, herzte und küßte sie und blieb ahnungslos dicht vor dem Fenster zur „braunen Stube“, wie die Leute das Arbeitszimmer des Barons zu nennen pflegten, stehen.

Die Kleine haschte mit den dicken Händchen nach den schönen Haaren, in denen die Sonnenstrahlen ein lustiges Spiel trieben, aber Ilse bog den Kopf zurück und versuchte, ein sehr ernstes Gesicht zu machen. „Das darf man nicht!“ Dann wollte Trudchen die Lilien haben, die Ilse gepflückt hatte, und diese schenkte ihr eine und wollte sie das Näschen tief in den Kelch stecken lassen, aber die Kleine wußte ganz gut, was das abgab, und wollte durchaus, daß Ilse zuerst ihre Erfahrungen machen sollte. Endlich setzte Ilse das zappelnde Geschöpfchen auf die Erde – dann eine schnelle Bewegung, ein zufälliger Seitenblick – und das junge Mädchen stand wie angewurzelt, einen heftigen Schreck in den dunklen großen Augen, eine fliegende Röte in dem zarten Gesicht. Achtlos fielen die Lilien zu Boden. Hastig bückte sie sich danach … wie ihr die Hände zitterten! Mein Gott, es war doch nichts Besonderes geschehen! Sie hatte nichts Unrechtes gethan – nur mit dem Kinde gespielt und gelacht, freilich so dicht vor dem Fenster – wer sie nicht kannte, der konnte denken, sie habe sich absichtlich dahin gestellt. Ihr war, so flüchtig sie auch hingesehen hatte, das Gesicht des Mannes, der sie beobachtete, merkwürdig vorgekommen – ein Gesicht, wie man es nicht jeden Tag sah. War er derjenige, der die „Perle“ kaufen wollte, der neue Herr? Sie sammelte in Hast die Lilien, schüttelte unmutig das Haar zurück und lief mehr, als sie ging, zum Eingang des Schlosses, ohne auch nur den flüchtigsten Blick zurückzuwerfen.

Unterdessen sagte drinnen, im Arbeitszimmer des Barons, Justizrat Sorau: „Ich weiß nicht, Herr von Montrose, ob nach gehabter Einsicht in die Bücher Ihre ursprüngliche Absicht irgend welche Wandlung erfahren hat –“

Der Angeredete machte eine höflich ablehnende Gebärde. „Durchaus nicht. Wenn Baron Doßberg es mir gestattet, komme ich bald wieder. Ich bin so gut wie entschlossen.“



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_098.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2023)