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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Ich füge die schöne Summe von 4000 Lire hinzu, wenn Ihr mir den bewußten Dienst erweist. Ihr wißt Näheres von der Sequestration Signorellis, Ihr wißt auch, daß sie ein Werk der Giulianesen ist. Gebt mir nur einen Faden, an dem ich mich halten kann, um die Bande und den Gefangenen zu finden.“

Und hier ist zu sagen, daß der arme, schon lange so schmerzlich Gesuchte im Nebenzimmer lag, von den Sprechenden nur durch eine dünne Wand getrennt, behütet von zwei Briganten!!

„Ich bin schwer krank, Herr Kommandant, zu nichts gut. Das Fieber wird mich verbrennen; um aber Ihrem Vertrauen, mit dem Sie mich beehren, entgegenzukommen, nehme ich den Vorschlag an. Sobald ich mich nur einigermaßen wieder rühren kann, werde ich etwas thun und Sie von dem, was ich in Erfahrung bringe, schleunigst, auch telegraphisch, in Kenntnis setzen.“

Und der Kommandant, der eine Luft mit den Räubern atmete, solche Frechheit aber nicht ahnte, ging weg, zufrieden, einen „Confidente“, einen „Vertrauensmann“ gefunden zu haben.

Siebenunddreißig Tage schon lag der Gefesselte in Gevatter Castrenzes dumpfiger Kammer, als an einem Novemberabende das Haus plötzlich und gänzlich unerwartet von einem Trupp Bersaglieri und Carabinieri umstellt wird. Gevatter Castrenze steht auf der Schwelle und schaut, die Hände in den Hosentaschen, dem Vorgange gelassen zu. Das Volk läuft neugierig herbei. Der Offizier tritt kurz auf Castrenze zu und fragt:

„Seid Ihr Castrenze Tamburello?“

„Zu dienen, Herr Lieutenant.“

„Gut. Wen habt Ihr im Hause, Tamburello?“

„Niemand.“

„Dann öffnet die Thür!“

„Ihnen zu dienen. Ecco!“

„Gut! Oeffnet auch die Thür zu jenem Zimmer!“

„Das thut mir wirklich leid. aber den Schlüssel hat mein Bruder mitgenommen.“

„Wenn der Schlüssel fehlt, so ist hier eine Axt, die als Schlüssel dienen kann. Brecht die Thür auf!“

„Trotz des Schadens, der meinem Eigentnm zugefügt wird, gehorche ich, Herr Lieutenant.“

Durch diese Bereitwilligkeit glaubte er den Offizier zu überzeugen, daß wirklich niemand da drinnen sei, und er hatte sogar die Frechheit, die ersten Schläge gegen die Thür zu thun. Da er aber sah, daß der Lieutenant ruhig wartete, bis die Thür aufspränge, setzte er ab und suchte einen andern Ausweg.

„Ich bin ein ehrlicher Mann,“ sagte er, „und will mein Gewissen nicht mit dem Schaden belasten, der daraus entstehen könnte. Hören Sie, meine Herren, ich sage Ihnen die Wahrheit ... Hier drinnen stecken wirklich die Räuber und ihr Gefangener Signorelli mit ihnen. Wenn Sie mir erlauben – es ist nur, um größeren Schaden zu verhüten – so gehe ich hinein und werde alles thun, die Dinge zu einem friedlichen Abschluß zu bringen.“

Und Offizier, Carabinieri und Bersaglieri gingen wiederum auf den Leim. Sie ließen ihn im guten Glauben eintreten, die Thür hinter sich schließen und mit den Briganten unterhandeln.

Die Kapitulation schien gesichert. Gevatter Castrenze aber hatte kaum die Thür fest hinter sich geschlossen. als er den befreundeten Räubern zurief: „Eine Flinte her und geben wir Feuer!“

Sofort wurde das Feuer eröffnet und die überraschte Truppe sah einen der Ihrigen nach dem andern fallen durch die wohlgezielten Schüsse der Verzweifelten, die ihr Leben teuer verkauften, nur mit großer Mühe überwältigt und der Behörde überliefert wurden.

Das sind Fälle des in seiner „Technik“ wohlbewanderten, vortrefflich organisierten (vortrefflicher jedenfalls als bisher die öffentliche Gewalt) „Brigantaggio militante“. Handwerkspfuscherei, bloßes Dilettantentum ist der gemeine „Malandrinaggio“ (Straßenräuberei), der sich schließlich an jedermann vergreift, der auch in seiner jüngsten Ueberhandnahme dem fremden Besucher der Insel verderblich werden könnte.

Hier ein letzter Fall vom 29. Oktober 1893. An diesem Tage erschienen vier lumpige Kerle, mit Hinterladern bewaffnet, vor einer einsamen Meierei der Herzogin Fernandina und sprachen den Campiere Salvatore Albo um Brot an. Albo suchte sie rasch zu bedienen, ging ins Haus und ließ sie allein mit dem Aufseher Ortolevo. Dieser wurde jetzt zu Boden geworfen, gebunden und beraubt. Plündernd drangen die Räuber darauf in die Wohnung ein, raubten 200 Patronen, 4 Kilo Pulver, 3 Flinten und für 500 Lire Geld und Wäsche. Der Campiere Albo entfloh, doch schossen die Räuber ihm nach und töteten ihn. Der am Boden liegende Aufseher erhielt mehrere lebensgefährliche Dolchstiche und blieb hilflos liegen. Die Nacht verbrachten die Burschen auf dem benachbarten Landhaus Montoscuro, wo sie am nächsten Morgen durch eine Abteilung Carabinieri und Bersaglieri umzingelt wurden. Es waren drei polizeilich „Vorgemerkte“ aus Alcamo dabei, die schon viel auf dem Kerbholz hatten.

Man spricht von der Schwäche der Behörden und von ihrer Bestechlichkeit, man weiß für seine Sicherheit keinen Rat und unterwirft sich dem mächtigeren Gesetz, dem der Maffia. Es ist wahr, die hierher versetzten, meist oberitalienischen Beamten, Präfekten, Unterpräfekten, Präfekturräte, Justizbeamte, Quästoren und Prätoren kennen die Sitte des Volkes nicht, beleidigen den Stolz und die Eitelkeit der Sicilianer und werden doch von diesen als „Hungerleider“ angesehen. Daneben wird tausendfach geklagt, daß die Insel als Strafplatz angesehen werde, daß die, die in den anderen Provinzen „drüben“ sich unmöglich gemacht, Bestecher und Bestochene, hierhergeschickt werden. Die Gerichtsbehörden sind überfaul, ihr Ruf ist sehr bedenklich. Ganz öffentlich erzählt man sich entsetzliche Geschichten von ihrer Bestechlichkeit und grausamen Ungerechtigkeit. Auf der andern Seite freilich ist die Arbeit an den Tribunalen und Schwurgerichtshöfen erdrückend groß und nicht zu bewältigen. Mit der überhandnehmenden Not wächst das Verbrechen. So lagen Ende 1893 allein in dem Gefängnisse von Girgenti, das für 375 Gefangene knapp eingerichtet ist, deren 450, und obschon sich die Gerichtshöfe in Dauer erklärt haben, müssen doch viele Gefangene zwei, drei, vier und mehr Jahre warten, ehe die „Reihe“ an sie kommt.

Das Volk ist müde und hungrig. Es nimmt den letzten Rest seiner Kraft zusammen, schüttelt die letzte Scheu ab, und was vordem im Finstern rachsüchtig sich der Maffia anschloß, tritt jetzt offen auf den Markt. Wie schon einmal!

Damals, im römischen Altertum, wo die Sklavenkriege das unerträgliche Joch brechen sollten. Das war vor 2000 Jahren. Wie Feuer im Stroh strich der Brand des Aufruhrs über die Insel und 200000 Sklaven liefen alsbald dem Freiheitsbanner zu. Das machte dem mächtigen Rom viel zu schaffen, fast sechs Jahre lang hielten sich die schlechtbewaffneten Knechte gegen die Kohorten der Römer, den Staat hart bedrohend.

Nur wenig hat sich seit jener Zeit im „Herzen“ Siciliens geändert; mag es mit Eisenbahnen, Maschinenfabriken, Telegraphen und elektrischem Licht beglückt worden sein: das Sklavenwesen dauerte an und Moder und Staub des Mittelalters liegt auf allen socialen Verhältnissen und Einrichtungen.

Es sind die Nachkommen jener antiken Sklaven, die sich heute, von wirklicher Not gedrängt, zu Bünden (Fasci), zu einem großen Inselbunde zusammenschlossen, zahlreicher als ihre Vorfahren, denn der lawinenhaft anwachsende Körper zählte Ende letzten Jahres bereits über 350000 Mitglieder, Männer und Weiber.

Auf den Fahnen des alten deutschen Bundschuhs stand geschrieben: „Nichts als die Gerechtigkeit Gottes!“ Mit Gott und Kirche wollen aber die sonst so demutsvollen, religiös fanatischen Bauern und Arbeiter der „Fasci“ nichts mehr zu thun haben, sie wollen ihre Wunder selbst verrichten, dazu hat man sie aufgerufen. Ihre Vorsteher huldigen fast alle socialistischen Dogmen; von diesen versteht das tief unwissende Volk nichts, aber man hat ihm gesagt, daß aus der Union eine Revolution, aus dieser eine Verbesserung ihrer Lage hervorgehen werde. Sie folgen ihren Führern, die leider oft genug der Maffia angehören, blindlings, legen Hacke und Schaufel nieder und wollen die Herren aushungern.

Das Volk hat einen neuen Glauben gefunden, läutet die Glocken, schwingt die Fahnen und sein Feldgeschrei lautet: „Abbasso le tasse! pane e lavoro!“ „Nieder mit den Steuern! Brot und Arbeit!“

Für den Augenblick scheint es, als ob das Massenaufgebot von Truppen, die man nach Sicilien gesandt hat, den lodernden Brand etwas gedämpft habe. Aber es steht zu fürchten, daß dies nur eine trügerische Ruhe sei, daß unter der scheinbar geglätteten Oberfläche die alten vulkanischen Gewalten weiter kochen, um eines Tages mit erneuter Glut hervorzubrechen, Schrecken und Zerstörung um sich her verbreitend. Nur von einer gründlichen Neugestaltung der verrotteten Zustände auf der Insel – und das wird eine lange, mühevolle, von einem zielbewußten Geiste geleitete Arbeit erfordern – darf man für dieses von der Natur so verschwenderisch ausgestattete Land wirklich bessere Tage erhoffen.




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