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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Bäumen schreiten – sie folgte dem Pfad, welcher hinüberführte zum Felsenstieg. Er holte sie ein, doch als er an ihrer Seite stand, blickte sie nicht einmal auf. „Recka,“ sagte er, „über die Wand hinauf, das ist kein Weg für solch eine Nacht!“

„Ich geh’, wo ich will.“

„Ein andermal – aber heut’ nicht!“ Mit diesen Worten faßte er ihre Hand.

Da hob sie das Gesicht, und es zuckte um ihre Lippen; sie machte einen Versuch, ihre Hand zu lösen, doch Sigenot hielt fest. Zwischen den Bäumen zog er sie mit sich fort, dem breiten Reitweg zu. Als sie hier eine Strecke gegangen waren und Sigenot fühlte, daß sich Recka nicht länger sträubte, gab er ihre Hand frei. Mit hoch erhobener Fackel schritt er an ihrer Seite. Sie sprachen kein Wort. Die rauchende Pechflamme wehte und loderte, und ihr greller wechselnder Schein zitterte über den Weg und gaukelte zwischen den finsteren Bäumen. Immer brausender wehte der Sturm, immer tiefer sank das treibende Gewölk, doch immer noch wollte der Regen nicht fallen, der die Wucht des Unwetters gebrochen hätte. Reckas Gewand flatterte, und die wehenden Haare züngelten ihr um Hals und Wangen. Häufig wankte sie im Gang, vom Sturm gestoßen und getrieben. Dann hob der Fischer die Hand, als wollte er sie stützen, doch Recka raffte ihr Gewand an sich und kämpfte sich weiter.

Auf der Höhe des Weges tauchte in der Blitzhelle schon die Mauer von Wazemanns Haus empor. Nun hörte Sigenot das Rasseln der fallenden Zugbrücke. Männer mit Fackeln kamen aus dem Thor. Reckas Brüder mit den Knechten; allen anderen voran eilte Henning den Weg einher.

„Ich komme!“ rief ihm Recka entgegen.

Geschrei und Gelächter war die Antwort; ein Deil der Männer kehrte in das Thor zurück, und Henning schrie: „Wo bleibst Du nur so lang’? Der Vater flucht schon eine ganze Weil’. Wo warst Du denn?“

„Auf dem Weitsee!“

„Jetzt? Im Sturm?“ Da erkannte Henning im Fackelträger seiner Schwester den Fischer. „Was will denn der bei Dir?“ Recka schwieg. „Hat der Dich am End’ herausgeholt?“

„Ja!“ sagte Recka und schritt an dem Bruder vorüber. Sigenot hatte schon den Rückweg angetreten; doch er hörte noch Hennings Lachen und seine höhnenden Worte. „Schäm’ Dich, Schwester! Bist Blut von Wazes Blut, und mußt Dir helfen lassen von einen solchen ...“

Sigenots Faust krampfte sich um den Schaft der Fackel. Dann schritt er heimwärts und ein bitteres Lächeln glitt über seine bleichen Lippen. Immer rascher wurde sein Gang. Aeste, die der Sturm von den Bäumen am Wegsaum brach, fielen ihm vor die Füße. Als er die Achenbrücke erreichte, war die Fackel niedergebrannt; er warf den erlöschenden Stumpf in das Gewirbel des Baches und schritt in der Finsternis weiter. Bald erreichte er seinen Hag und verschloß das Thor mit dem Balken.

Die Stube fand er leer. Mutter und Schwester lagen wohl schon im Schlummer. Nur ein Häuflein Kohlen glostete noch auf dem Herd, und auf dem Steintisch brannte die irdene Butterlampe mit züngelndem Flämmlein; neben die Lampe hatten sie ihm das Nachtmahl hingestellt. Sigenot sah es nicht ... er ließ sich auf den Herdrand niedersinken, atmete tief und blickte in den roten Schein der Kohlen.

Draußen tobte das Wetter, und durch die Spalten der geschlossenen Thüre, durch die Ritzen der Fensterläden leuchtete der weiße Feuerschein der Blitze.

*      *      *

Bruder Schweiker hatte die Stelle für die Nachtrast gut gewählt. In den Lüften heulte der Sturm, in der Höhe des Waldes brausten die Bäume, doch in die tiefgesenkte, von dichtem Gestrüpp umhegte Mulde drang der Wind nur mit gebrochener Macht, und selten geschah es, daß ein stärkerer Stoß aus den Lüften niederfuhr und an den beiden Zelten rüttelte. In dem einen teilte sich Schweiker mit Bruder Wampo in den schmalen Raum. Von der Gabelung der Zelthölzer hing ein schwankendes Lämplein nieder und warf seine trübe Helle über das auf einer Stangenbritsche gebettete Mooslager der beiden Brüder. Lang ausgestreckt, den Arm als Kissen unter dem Kopf, lag Schweiker in gesundem Schlaf; ihn weckte kein Donner, kein Brausen des Sturmes. Nur manchmal rührte er sich ein wenig, that einen schüchtern schnarchenden Atemzug und lag dann wieder in stillem Schlummer. Bruder Wampo aber konnte kein Auge schließen. Er saß auf dem Moosbett, die Knie an den Leib gezogen, die Arme um die Beine geschlungen, zuweilen that er wohl im beginnenden Halbschlaf einen kleinen Nicker mit dem Kopf, doch wenn der Donner krachte und rollte, riß er die Augen wieder sperrangelweit auf und brummte vor sich hin: „So ein Wetter! Nein, ist das ein Wetter!“ Da raschelte es am Zelttuch. Wampo hob den Kopf und lauschte: „Was ist denn?“ rief er.

Einer der Knechte trat in das Zelt, mit einem Span in der Hand, den er über das Lämplein hielt, um ihn anzubrennen. „Wir müssen Feuer machen,“ sagte er, „die Saumtier’ schlagen umeinander und schnaufen ... Raubzeug muß in der Näh’ sein. Aber wenn das Feuer brennt, wird wohl bald Ruh’ sein.“ Mit dem flackernden Spanlicht ging der Knecht davon.

„So, schön! So, schön!“ stotterte Wampo. „Da laufen ja die wilden Tier umeinander wie die Hasen im Krautacker! O Du mein lieber Herrgott, ist das eine Gegend!“

Vor dem anderen Zelte, aus dessen Innern der eintönige Laut einer psalmierenden Stimme klang, saß Eberwein auf einer Fichtenwurzel mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, die Hände im Schoß gefaltet, regungslos, fast wie in Schlummer versunken. Ueberfloß ihn die Helle eines Blitzes, so erleuchtete sie ein ruhig lächelndes Gesicht und stille Augen, welche traumverloren hinausblickten in all das Stürmen und Toben.

Die Bilder des vergangenen Tages waren an seinem Geist vorübergezogen, und schwere Sorge hatte ihn bedrückt. Was er an diesem Tag erleben mußte, mit Sigenot, mit Waldram und mit dem Haunsperger ... hatte nach der heißen Freude, die er auf der steilen Felsenzinne dort oben empfunden, nicht alles geendet mit Verstimmung und Mißklang? War nicht der erste Weg schon, den er mit den Brüdern gegangen, ein Weg in die Irre gewesen? Und wie sollte nun alles weiterkommen? Würde er, ein Fremdling in diesem unwirtbaren Bergthal, wohl auch das Flecklein Erde zu finden und zu wählen wissen, welches die junge Klause am besten trüge? Und wenn die Klause stünde ... würde in dem zähen und schweren Kampf, der unausbleiblich schien, die Kraft und der hoffende Mut ihn nie verlassen, bis die Sendung erfüllt wäre, die er auf sich genommen? Aber stand er denn allein und ohne Hilfe? War denn mit ihm und seiner heiligen Sache nicht Einer, der Menschen Mildester und Größter, er, dessen Vater mit einem Wimperzucken die Welten lenkt, mit einem Hauch den Sturm erregt und ihn wieder geschweigt mit einem Lächeln? „Ach über mich Furchtsamen und Kleinmütigen, der ich doch nur die Augen schließen darf und meines Führers harren!“ Mit diesen Worten war die Ruhe über ihn gekommen, und je länger er saß, hinausblickend in die sturmvolle Nacht, desto heller und stiller ward es ihm in Herz und Seele.

Und wieder dachte er an alles, was dieser Tag gebracht. Und alles gewann nun vor seinem Blick ein anderes Gesicht. War sein Weg denn wirklich in die Irre gegangen ... der Weg, der ihn und die Brüder hierhergeführt an diesen stillen, vor der Wut des Sturmes wohlgeschützten Ort? Und Friedrich von Haunsperg? Wie durfte er diesem Manne zürnen? Ein Kriegsmann, der die Worte nicht wog, der von derber Art war und aus hartem Holz geschnitten, ein treuer Diener, der immer nur seines Herren denkt und immer nur seines Herren Vorteil zu wahren sucht! Und Waldram? Floß denn seine zornige Strenge und seine düster flammende Art aus anderer Quelle als aus reinem Glauben an Gott, aus heißem Eifer für Gottes Sache? Und wie sollte sich, was aus Gutem kam, nicht wieder zum Guten wenden lassen?e Und Sigenot, der Fischer? War Eberwein ihm nicht entgegengetreten, unerwartet, ein Fremder dem Fremden? Wachsen Freundschaft und Vertrauen aus dem ersten Wort, aus dem ersten Blick? Eberwein lächelte. War denn nicht alles, was dieser Tag gebracht, natürlich und selbstverständlich? Wo lag denn ein Mißerfolg, der ihn verstimmen durfte, mit Sorgen bedrücken und kleinmütig machen?

In den Lüften heulte ein Windstoß, und im Innern des Gewölkes flammte ein Blitz; in einer Wolkenkluft, auf finsterem Grund, beleuchtete die rot aufzuckende Helle ein seltsam geformtes, vom Sturm gejagtes Nebelgebild ... „Wie ein Roß und eine Reiterin mit wehendem Rothaar!“ flüsterte Eberwein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_087.jpg&oldid=- (Version vom 17.5.2019)