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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Das Herz des Mannes, dessen Augen dieses mächtige Landschaftsbild umschlossen, schwoll auf in leidenschaftlicher Heimatliebe, in leidenschaftlichem Schmerz. In seinen Zügen arbeitete und zuckte es; ein unnennbares Mitleid mit sich selbst stieg in seiner Seele empor, wuchs riesengroß an und legte sich ihm wie ein grauer Nebel vor die Augen. Er schauerte zusammen, ließ die Zügel auf den Hals seines Pferdes sinken und schlug die Hände vor das Gesicht. Doch nicht lange. Mit einem plötzlichen Ruck richtete er sich auf und sah sich verstört und furchtsam um, ob ihn auch niemand beobachtet habe. Nein, nichts war zu sehen, kein Laut zu hören als das eintönige Rollen der Brandung. Still, wie aus Erz gegossen, hielten Reiter und Pferd eine Weile da oben; der frische Seewind umspielte sie und bewegte leise die Blätter der Rose, die der Mann an der Brust trug.

Da hob der Braune den Kopf und stieß ein helles Wiehern aus – er hatte einen guten Kameraden gewittert. Im Unterholz des Waldes knackte und rauschte es – Doßberg hatte sich im Sattel zurückgewandt und sah jetzt einen zottigen, etwas altersmüden Pony dahertrotten, auf dessen Rücken ein junger schlank gewachsener Bursche saß, ungefähr sechzehnjährig, blond und dunkeläugig gleich seiner Schwester Ilse, und hübsch, sehr hübsch. Der junge Reitersmann zog die Mütze vor dem Papa und lachte ihm freundlich entgegen.

„Nun Junge, guten Morgen! Du bist schon lange unterwegs, wie Ilse mir sagte.“

„Guten Morgen, Papa! Ja, ich bin in aller Frühe weggeritten, habe das Gut inspiziert“ – das kam sehr gesetzt und wichtig heraus – „aber jetzt hab’ ich einen fürchterlichen Hunger! Es war dumm von mir, kein Frühstück mitzunehmen. Hast Du zufällig etwas zum Essen hei Dir?“

„Gewiß hab’ ich! Wir wollen absitzen und im Pavillon frühstücken!“

Armin sprang ab und hielt den Braunen des Vaters diensteifrig beim Zügel. Die beiden Pferde wurden an eine Birke gebunden, Vater und Sohn setzten sich auf die halbrunde Bank im Pavillon, tranken leichten Rotwein aus der Feldflasche des Barons und aßen einige belegte Butterbrote, die für Armins Hunger nur zu rasch verschwanden. –

„Schau’ nur, Papa, welche Aussicht!“ unterbrach der junge Bursche das Schweigen und sah mit leuchtendem Blick zuerst rechts hinüber, wo das Schloß lag, dann geradeaus über das Meer. „O, etwas so Schönes wie unser Gut giebt es gar nicht mehr in der Welt!“

Der Baron erwiderte kein Wort, Armin beachtete das weiter nicht, sondern plauderte unbefangen weiter, ganz erfüllt von den Eindrücken, die er bei seinem Morgenritt empfangen hatte. „Die Wintersaat drüben beim Wilhelmsbühl steht vorzüglich und auch mit der Sommerung hinten beim Park wird es gehen … aber wie sieht das Feld rechts von der Wolframskapelle aus! Hast Du Dir das angesehen, Papa? So, als ob seit endloser Zeit gar nichts dafür geschehen wäre! Und unser Schafstall schreit zum Himmel – der Kälberstall, der fällt Dir ’mal zusammen, Du sollst es sehen! Und daß der Viehstand bei uns gar nichts taugt, das giebt sogar der alte Hinz zu! Freilich, Du hast der Ilse und mir letzthin gesagt, daß Du ein bißchen in Verlegenheit seiest – na ja, das kann bei dem besten Landwirt vorkommen – aber wie lange soll denn dieser halbe Zustand noch dauern?“

Armin hatte sich ganz rot und heiß gesprochen, er langte sich die Feldflasche herüber und that einen kräftigen Zug. Sein Verhältnis zum Vater, das immer sehr gut gewesen war, hatte sich seit einiger Zeit in ein beinahe freundschaftliches verwandelt, er hatte sich daher keinen Augenblick besonnen, eine so offene Sprache zu reden, im Gegenteil er hielt sich sogar für verpflichtet dazu. Papa hatte vielleicht andere Gedanken im Kopf, andere Sorgen … da mußte doch er, Armin, auf das Gut aufpassen, an dem er mit jeder Faser seines Herzens hing!

Der Baron sah seinen Sohn aus den großen Augen kummervoll an und strich ihm mit der Hand liebkosend über das weiche blonde Haar. Armin nickte wohlgemut. „Du glaubst gar nicht, Papa, wie ich mich danach sehne, von der Schule weg- und hier herauszukommen. Wär’ es nicht Dein bestimmter Wille, daß ich das ganze Gymnasium durchmachen soll, ich ginge lieber heut’ als morgen ab. Das Zeugnis für Prima bekäm’ ich schlankweg, und ob ich mich noch durch ein paar alte Griechen und Römer durcharbeite … was hilft mir das für meine landwirtschaftlichen Kenntnisse? Ich komme mir in der Schule so überflüssig vor – daran muß wohl auch unser Direktor gedacht haben, als er neulich mit mir sprach. Wirklich ein anständiger Mensch, wir sind sehr zufrieden mit ihm! ‚Also, Doßberg,‘ sagte er zu mir, ‚Sie wollen endgültig Landwirt werden?‘ ‚Jawohl, Herr Direktor!‘ ‚Hm!‘ machte er. ‚Ich möchte, sobald ich nur irgend kann, meinem Vater bei der Bewirtschaftung unseres Stammgutes helfen, da ich es ja später jedenfalls übernehmen werde.‘ – ‚Hm, hm!‘ machte er noch einmal – ich kann Dir sagen, es klang ganz bedenklich, als wollte er sagen: Mein Sohn, was willst Du überhaupt noch auf der Schulbank? Geh’ heim und bebaue Deine väterliche Scholle!“

Der Baron teilte diese Auffassung seines Sohnes durchaus nicht. Der Direktor hatte offenbar von der schlimmen Lage der Doßbergschen Verhältnisse gehört, und ihm kam die naive Zuversicht seines Schülers, der von der Uebernahme des Stammgutes wie von etwas Selbstverständlichem sprach, höchst sonderbar vor, daher sein bedenkliches: „Hm! Hm!“ Kapitän Leupold hatte ja bei einem seiner seltenen Besuche dem Baron ins Gesicht gesagt, daß die Lage der Dinge in „Perle“ durchaus kein Geheimnis mehr sei.

Armin sah seinen Vater, der noch immer schwieg, einen Augenblick unsicher an, dann aber fuhr er lebhaft fort: „Denk’ Dir, Onkel Leupold will mir zum Herbst zu den Enten- und Schnepfenjagden ein feines englisches Gewehr schenken – ein gescheiter Gedanke, nicht, Papa? Ich wollt’ es lieber gleich, aber er meinte: ‚Erst wollen wir sehen, ob Du so weit kommst, um zum Herbst auf ‚Perle‘ Enten zu jagen; dann werden wir uns weiter sprechen!‘ Na, wenn er damit mein Zeugnis meint – das werd’ ich wohl zeigen können! Wenn ich durchaus noch Schüler sein muß, dann will ich auch etwas taugen!“

„Ein sehr löblicher Grundsatz!“ Doßberg nickte mit einem schwachen Lächeln.

„Du bist aber riesig schweigsam, Papa – und gut bei Appetit bist Du auch nicht, ich hab’ beinah’ das ganze Frühstück allein aufgegessen! Fehlt Dir etwas?“

„Nein, mein Junge, mir ist ganz wohl! Aber wenn Du fertig bist, so wollen wir weiter reiten.“

„Sogleich, Papa! Nur mußt Du Deinen Braunen fest in den Zügel nehmen, daß der Pony gleichen Schritt mit ihm gehen kann. Der alte Kerl will gar nicht mehr vorwärts und einen Eigensinn kann er entwickeln – pyramidal!“

Ehe sie die Pferde losbanden, warfen Vater und Sohn noch einen letzten Blick auf Land und See. Fern im tiefen Meeresblau schwamm ein weißes Segel wie ein Schwan, in der Nähe des Strandes tummelten sich ein paar Möven, schnellten dicht über die Brandung hin und tauchten ihre leuchtenden Schwingen keck in den aufspritzenden Schaum.

„Wie schön!“ rief Armin und seine Brust dehnte sich unter einem schwellenden Atemzuge. „O, wie ich das Meer liebe! Freilich an die Ilse reich’ ich doch nicht heran! Die hat in letzter Zeit eine ganz unglaubliche Begeisterung für die See gefaßt; so und so oft läuft sie hierher, obgleich es zu Fuß ein ganz hübsches Ende bis da heraus ist.“

Die Stirn des Barons hatte sich bei Armins letzten Worten gefurcht. Sollte Kamphausen … Unsinn! Mit welchen Hirngespinsten er sich plagte! Als ob es nicht schon genug wirkliches greifbares Unheil in seinem Leben gegeben hätte! Sollte er sich auch noch mit nutzlosen Grübeleien das Herz schwer machen? In wenigen Tagen ging ja die „Nixe“ auf lange, lange Zeit in See!




4.

In ihrem bequemen Krankenstuhl, von Kissen und gerollten Decken auf beiden Seiten gestützt, saß die Baronin Doßberg am geöffneten Fenster, eine Freude, die ihr lange Zeit hindurch nicht zu teil geworden war, die sie seit Jahren so selten genoß. Ihre schmalen überzarten Finger ruhten gefaltet auf der blauen gestickten Decke, die man ihr über die Knie gebreitet hatte – blau war die Lieblingsfarbe der Baronin, in der sie auch jetzt noch gerne ein bißchen kokettierte. Sie war immer ein wenig eitel und kokett gewesen, die gute Baronin, aber beides äußerte sich harmlos, und da sie liebenswürdig war und keine Spur von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_046.jpg&oldid=- (Version vom 21.2.2019)