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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

statt und 600 mehr oder weniger krumm und lahm geschossene Krieger hielten ihren Einzug, wobei nach dem Befehl des Königs „arme“ Invaliden besonders bevorzugt wurden.

So stand nun das Haus da, ungefähr schon so, wie es heute ausschaut: ein drei bescheidene Stockwerke hohes, volle 175 Meter langes Gebäude, nebst einem Mittelbau, dem „Risalit“ („Resolut“ sagen die Invaliden). Zwei auch hübsch lange Flügel gehen davon aus; sie umschließen mit dem Hauptgebäude den auf unserer Abbildung S. 8 ersichtlichen „Kanonenhof“, mit seinem Belagerungsgeschütz von 1780 in der Mitte. Den Schmuck der Anlagen kannte dieser Hof ursprünglich nicht; dafür ward dort ein lebhafter Markt abgehalten, denn das einsam gelegene Anwesen, das noch bis in die Neuzeit hinein die Bezeichnung „Invalidenhaus bei Berlin“ führte, bildete eine kleine Stadt für sich mit eigener Wirtschaftsführung. Rechts und links liegen zwei Seitenhöfe, deren Abschluß durch je ein Kirchlein sowie durch die ehemaligen Wirtschafts- und jetzigen Stallgebäude gebildet wird. Anfangs wurde die nach dem Spandauer Schiffahrtskanal schauende Westseite als die Front angesehen; in der Neuzeit erachtet man dafür die nach dem Kanonenhofe gelegene Ostseite, an der die Scharnhorststraße vorüberführt. Auf jeder Front steht die vom Alten Fritz angebrachte Inschrift „Laeso et invicto militi“, „dem wunden und unbesiegten Krieger“ und seit kurzem prangt auch ein goldenes Reliefbild des königlichen Stifters unter dem Giebel des Vorder-Risalits.

Die Blinden.

Friedrich II. hatte sich gedacht, seine Invaliden würden sich trefflich zur Urbarmachung des vertrackten Sandes eignen und damit nicht bloß selbst eine gesunde Arbeit haben, sondern auch dem Hause eine gute Einnahmequelle schaffen. Aus diesem Grunde geschah auch die Ueberweisung der gewaltigen Bodenfläche von 134 ha an das Invalidenhaus. Allein der Plan schlug fehl; sei es, daß es an den nötigen landwirtschaftlichen Hilfsmitteln mangelte, sei es, daß die alten Knaben keine rechte Kraft und Lust zum Ackerbau besaßen, genug, es wurde durch die Selbstbewirtschaftung nicht einmal der nötige Futtervorrat für die Oekonomie des Hauses gedeckt, und so kam man dazu, den Landbesitz um ein Billiges zu verpachten oder zu verkaufen. Allmählich ging er fast ganz in Privathände über oder wurde zu sonstigen fiskalischen Zwecken hergegeben. Der alte Hamburger Bahnhof, die Gnadenkirche, das Augusta-Hospital, die Gebäude der Bergakademie, der Landwirtschaftlichen Hochschule, des Museums für Völkerkunde, der Exercierplatz der Artillerie – „Grützmacher“ genannt nach einem alten Pächter der Wirtschaft des Invalidenhauses – die Kasernen der Gardefüsiliere, das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater, der Stettiner Bahnhof etc. etc., alles dies liegt auf der dem Invalidenhause gestifteten Sandscholle des Alten Fritz.

Der ersten inneren Ordnung des Hauses fehlt es nicht an Zügen, die uns heute etwas befremdlich anmuten. Die Invaliden waren in drei Kompagnien eingeteilt. Die Offiziere wohnten für sich. Von den Mannschaften bildeten je ein Verheirateter und vier ledige „Kammerburschen“ eine „Kameradschaft“, die gemeinschaftlich in einer Stube nebst Kammer hauste, d. h. das Ehepaar in der Stube, das ledige Volk daneben in der Kammer, und es bestand die Absicht, daß die Frau die oft hilflosen Burschen mit bedienen sollte. Fünf Kameradschaften erhielten eine Küche zugewiesen.

Für die religiöse Erbauung der Invaliden hatte der Alte Fritz reichlich gesorgt, denn er hielt sehr auf die „Dankbarkeit für Gottes Wohlthaten“. Auch an Schulunterricht fehlte es nicht im Invalidenhause. Der Kommandant mußte von jeder Konfession einen Unteroffizier oder Gemeinen aussuchen, der „beim Gottesdienst vorsang, die Kirche rein hielt, auch die Kinder im Lesen und Christentum informierte“, wofür der Mann dann monatlich 1 Thaler 6 Groschen „extraordinär“ bekam. Leider war aber selbst dieser Lohn oft umsonst bezahlt, da die Invaliden ihre Sprößlinge, statt sie in die Schule zu schicken, lieber zu dem einträglichen Wollespinnen ausnutzten. Später ist das glücklicherweise anders geworden.

Der Stratege.

An dem fröhlichen Kribbelkrabbel des Kindervolks hat das Invalidenhaus selten Mangel gelitten. Noch jetzt kann man zwischen den alten Knasterbärten die heraufwachsende junge Gesellschaft auf den Höfen oder in den Gärten oder bei trübem Wetter treppauf treppab und durch die endlosen, schlauchartigen Gänge tollen sehen, falls nicht der Invalide, welcher zu gewissen Stunden des Tages das Haus im Innern abzupatrouillieren hat, allzu übermütigen Unfug verhindert.

Die Gunst für die verheirateten Invaliden ist freilich nicht immer herrschend geblieben. Der Kriegsminister von Boyen schrieb z. B. einmal: „Nur gerade soviel Weiber, als die Anstalt bedarf, müssen darin aufgenommen und bei der Auswahl muß darauf gesehen werden, daß sie wenige oder gar keine Kinder haben, denn die Familien sind das größte Hindernis der Reinlichkeit.“ Die Damen des Hauses werden über diese Beurteilung wohl nicht sehr entzückt gewesen sein. Leider bleibt noch zu bemerken, daß Friede und Freundschaft nicht durchweg unter ihnen an der Tagesordnung waren, vielfach wohl wegen der gemeinsamen Küchen. Es kam soweit, daß 1836 um Einrichtung eines Civilgefängnisses

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_009.jpg&oldid=- (Version vom 18.2.2019)