Seite:Die Gartenlaube (1894) 003.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


schluchzendem Laut erloschen seine Worte; überwältigt von der Empfindung dieser Stunde, schlug er die Hände vor das Antlitz und weinte in heißer Freude.

„Herr, was ist Dir?“ fragte der Kohlmann.

Doch Eberwein hörte nicht. Wangen und Bart von schimmernden Zähren betropft, ließ er die Hände sinken, athmete tief, drückte die zitternden Fäuste auf seine schwellende Brust, und wieder trank er mit leuchtenden Blicken die Schönheit des ihm zu Füßen gebreiteten Landes - seines Landes, zu dessen Fürst und Hirten er berufen war.

Fürst dieses herrlichen Landes! … …

Das hätte wohl der vierzehnjährige Knabe, der vor zwanzig Jahren auf den Almgehängen des Karwendel die Geißen hütete, auch im Traum nicht geahnt, daß ihn der versteckte Wildpfad, auf dem er einen verirrten Mönch zu Thal geleitete, bis zu solcher Stelle führen würde. Der Verirrte, das war Herr Gosbert gewesen, der Abt zu Scharnitz, ein freundlicher Greis, auf der Suche nach heilsamen Kräutern hatte er Weg und Richtung verloren und war in pfadloses Gestein geraten. Da hörte er die singende Stimme des Geißbuben, der in der brütenden Sonne auf einem Felsblock hockte, halbnackt, mit gebräunter Haut, das brennende Gesicht umfilzt von einer Wirrnis blonder Locken, mit kurzem Messer an einer Zirbenwurzel schnitzend. Als der Bub den Mönch erblickte, erschrak er, daß ihm Holz und Messer aus den Händen fielen. Kaum aber hörte er, daß Herr Gosbert einen Führer nötig hätte, da lächelte er und nickte. „Komm’ nur, Herr, komm’, ich führ’ Dich schon heim!“

„Weißt Du denn auch den Weg zum Kloster?“

„Ich komm’ doch all’ Jahr’ zweimal dran vorbei, wann ich auftreib’ zur Alben und wann ich heimtreib’!“

„Heim? Wohin?“

„Hinüber ins Garmischgau! Weit, Herr, weit hinüber, bis zum Wertofels! Wohl wohl, sell bin ich daheim.“

So plauderten sie weiter, während sie niederstiegen durch den dunklen Bergwald. Der Abend dämmerte schon, als sie das Kloster erreichten, und der Geißbub mußte nächtigen im heiligen Haus. Er durfte im Refektorium an der Tafel des Abtes sitzen, der an dem heiteren aufgeweckten Buben seine helle Freude fand. Lachend füllte Herr Gosbert den hölzernen Teller des Knaben, und da aß der Bub und aß, bis ihm die Schweißtröpflein auf die Stirne traten … er getraute sich nicht aufzuhören, weil immer noch etwas auf dem Teller lag. Nach dem Mahle nahmen die Mönche den Buben in ihre Mitte und hatten Kurzweil mit ihm. „Wie heißt Du?“ fragten sie.

„Eberwein.“

Da lachten sie. „‚Freund des Ebers‘! Der muß gut stehen mit den wilden Sauen! Einen schönen Namen hat Dein Vater für Dich ausgesucht.“

Er schaute sie mit großen Augen an. „Ich hab’ keinen Vater.“

„Keinen Vater? Wem gehörst Du dann? Deiner Mutter, gelt?“

Er schüttelte den Kopf. „Dem Wertofelser Burgherrn bin ich hörig - ich hab’ keine Mutter.“

Nun lachten sie wieder. „Schauet den Buben an! Der hat nicht Vater und Mutter und ist doch zur Welt gekommen! Wie ist denn das nur zugegangen?“

„Ich weiß schon; die Diemud hat mir’s gesagt.“

„Die Diemud? So? Und wer ist denn das?“

„Die Alberin.“

„Und was hat sie gesagt?“

„Sie hat gesagt, die Hulfrau hätt’ mich aufgefischt in ihrem Kindelteich und hätt’ mich auf der Straß’ verloren, bevor sie zu dem Haus gekommen ist, in das sie mich hat tragen wollen.“

Da machten die einen ernste Gesichter und schüttelten die Köpfe; die anderen aber lachten, und während Herr Gosbert schweigend aufhorchte, fragten sie: „Wer hat Dich denn gefunden?“

„Der alte Ostalar von Eibinsee, der Ferchenfischer. Auf der Romstraß’ hat er mich gefunden, die bei der Partenkirch’ vorbeigeht, mitten drin im Buchwald, als ein winzigs Kindl. Und eine Wildsau ist über mir gestanden, und derweil ich alleweil geschrien hab’, hat sie mich umgekugelt mit dem Rüssel. Aber wie sie den Ostalar gesehen hat, ist sie davongelaufen und er hat mich aufgehoben und hinaufgetragen in den Wertofelser Burgstall. Dort hat er alles erzählt, wie’s gewesen ist, und drum haben sie mich Eberwein getauft. Und so bin ich halt aufgewachsen.“

„Bei der Diemud?“ fragte lachend einer der Brüder.

„Nein, Herr, bei den Geißen im Stall.“

„Ohne Vater, ohne Mutter!“ flüsterte Pater Azzo, ein greiser Mönch, und streifte zärtlich mit der zitternden Hand über den Scheitel des Knaben. Der Bub wurde still und machte scheue Augen. Aber Herr Gosbert faßte ihn bei der Hand und zog ihn an sich. „Nicht ohne Vater! Nein, Eberwein, einen Vater hast auch Du. Oder kennst Du ihn nicht? Schau hinauf zu ihm!“ Und Herr Gosbert deutete zur Höhe.

Eberwein hob die Augen, starrte das mit Schnitzereien verzierte Gebälk der Decke an und fragte mit verlegenem Lächeln: „Hockt er da drin im Holz oder ist über der Decken noch eine Stub’, wo er hauset?“

Ein Gelächter erhob sich, daß es einen Hall gab an den Wänden. Sogar Herr Gosbert schmunzelte, und als es wieder stille geworden war, fragte er. „Sag’, Eberwein, was meinst Du wohl, daß aus Dir noch werden soll?“

Da leuchtete das Gesicht des Buben: „Zwei Jahr’ noch muß ich die Geißen hüten, aber dann, Herr, wenn ich noch gewachsen bin um eine Spann’ und so starke Arm’ hab’, daß ich den Näbiger[1] werfen und das große Netz ziehen kann, dann will mich der alte Ostalar in die Lehr’ nehmen, und ich soll ein Fischer werden.“

„Ja, Eberwein, ein Fischer sollst Du werden!“ Herr Gosbert erhob sich und legte die Hand auf des Knaben Schulter. „Aber nicht ein Fischer, der nach Hecht und Ferchen geht, sondern einer, der Seelen fischt. Sag’, Eberwein, gefällt es Dir im Kloster? Möchtest Du nicht bleiben bei uns?“

Der Bub machte verdutzte Augen zu diesen Worten, dann aber streifte er mit flinkem Blick den Tisch, auf dem noch die Reste des Mahles standen - - all’ Tag essen wie die Klosterleut’, warum hätt’ ihm das nicht gefallen sollen?

Lärmend umdrängten ihn die Mönche, und Herr Gosbert wiederholte seine Frage. „Möchtest Du nicht bleiben bei uns?“

Da drückte der Bub das Kinn auf die Brust und stotterte: „Wohl wohl, Herr, ich möcht’ schon, wenn ich nur dürft’!“

„Dein Wille ist Dein Recht! So bleib’ und trage das Kleid der Kirche, das Dich löset von aller Knechtschaft.“ Herr Gosbert wandte sich zu einem der Mönche. „Reich’ mir einen Denar!“ Der Mönch nestelte einen ledernen Beutel von der Kuttenschnur und reichte dem Abt eine blinkende Münze. Schweigend standen die andern umher. „Soviel ist Deine Knechtschaft wert!“ sagte Herr Gosbert und legte den Denar in Eberweins offene Hand. Eine dunkle Röte überfloß das Gesicht des Buben; doch als er die Finger schließen wollte, schlug ihm Herr Gosbert die Münze aus der Hand, daß sie bis an die Decke flog, klirrend niederfiel und über die Dielen in einen Winkel rollte. „Nimmer hörig bist Du, von Dir abgefallen ist die Knechtschaft, Eberwein Frymann sollst Du heißen von Stund’ an und ein Sohn des Klosters sein!“

Der Knabe stand und wußte nicht, wie ihm geschah. Herr Gosbert zog ihn an sich und küßte ihn auf die Stirn. Dann winkte er jenen greisen Mönch herbei. „Nimm den Knaben, Azzo, ich geb’ ihn in Deine Hut, denn ich hab’ es wohl gesehen. Dein erster Blick für ihn war Liebe. Nimm ihn und schaff’ ihm ein Lager in Deiner Zelle! Scher’ ihm die Locken und reich’ ihm ein Scholarenkleid!“

Pater Azzo schlang den Arm um den Knaben und zog ihn zur Thüre. „Komm’, Büebli, komm’,“ flüsterte er ihm ins Ohr, „ich will Dir ein Vater sein, ein guter, weißt … sollst Dir keinen besseren wünschen!“

Eberwein ließ sich führen; er schien von allem, was mit ihm geschah, nur das eine zu begreifen, daß er im Kloster bleiben sollte, und das schien ihm Freude zu machen, denn er lächelte. Doch als er die Thür erreichte, flog es jählings wie Schreck über seine frischen Züge. Er wandte sich um und stammelte. „Herr, Herr, wenn ich bleib’, wer soll denn morgen meine Geißen betreuen?“

Herr Gosbert lächelte. „Sei ohne Sorge, vor Tag’ noch schick’ ich einen Hüter hinauf.“

Eberwein besann sich, dann sagte er: „Aber gelt, Herr, mußt ihm einreden, daß er nicht unmütig thut mit ihnen. Ich hab’ nie hüten mögen mit Stecken und Geißel, sie hören all’ auf gute Wort’!“

Freundlich nickte Herr Gosbert. „Das will ich ihm sagen.“

„Und wenn er hinaufkommt, soll er das Messer suchen, das

  1. Fischspeer mit Widerhaken, dessen Schaft zugleich zum Vorwärtstreiben des Flosses diente.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_003.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)