Seite:Die Gartenlaube (1894) 002.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Haaren, der vom Nacken aus die Stirn umzog, begannen sich schon wieder schüchterne Locken zu zeigen. Noch lichter als das blonde Haupthaar war der reiche Bart, der die Wangen umkräuselte und in zwei Spitzen auslief. In dem von der Wanderung leicht geröteten Antlitz, aus welchem die blauen Augen wie zwei Sterne strahlten, vermischte sich der Ernst des gereiften Mannes mit der träumerischen Weichheit eines Knabengesichtes. Auch in der ganzen Erscheinung, in jeder Bewegung zeigte sich ein gleicher Gegensatz: abgeklärte Ruhe und Gemessenheit, und dennoch treibendes Leben und jugendliche Kraft, die sich äußerte und gleichsam wieder selbst bezwang bei jedem Schritt, in jeder Wendung des Hauptes, in jedem Griff der Hände.

Immer heller wurde der Wald, und über die zerflossenen Wolken, die am Himmel schwammen, fiel eine leuchtende Röte. Der Kohlmann deutete mit dem Bergstock nach einer nahen Lichtung. „Dort liegen die Alben, Herr!“

„Herr und immer Herr!“ erwiderte der Mönch mit herzlichem Klang in der Stimme. „Ich bin nicht zu Euch gekommen als neuer Herr. Ich will Euch sein wie ein Bruder. Nenne mich bei meinem Namen: Eberwein!“

Der Kohlmann blickte sich um und lachte, als hätte er einen Scherz gehört, dann schüttelte er den Kopf und stieg weiter.

„Und Dein Name?“ fragte der Mönch.

„Eigel heiß’ ich. Aber ich hör’ den Namen nicht oft. Die Leut’, die sagen halt, wie Du sagst: Kohlmann!“

„Und wie nennt Dich Dein Weib? Wie Deine Kinder?“

„Gar nicht!“ lachte der Alte und wandte das Gesicht. „Denn ich hab’ meiner Lebtag’ kein Weib und Kind gehabt.“

Der Mönch sah ihn mit staunenden Augen an. Womit dann hast Du Dein Leben ausgefüllt?“

„Mit Schlaf bei der Nacht, mit Schaffen am Tag. Muß denn eins Weib und Kind haben? Du hast doch auch kein Weib, Herr, und Kinder, mein’ ich, hast Du wohl auch nicht?“

Eberwein lächelte. „Ich habe tausend Kinder: alle Menschen, die ich liebe.“

„Da hast aber viel zu schaffen, mit so viel Lieb’!“ meinte der Alte und nickte mit leisem Kichern vor sich hin.

Eine Weile stiegen sie schweigend weiter, dann blieben sie lauschend stehen. Sie hörten das helle Wiehern eines Pferdes und gedämpften Hufschlag, der sich näherte und wieder verklang. In der Stille des Urwaldes hörten diese Laute sich an schier wie ein Klang aus einem Märchen.

„Ein Pferd in solcher Höhe, in dieser Oede?“ fragte Eberwein.

„Es mag wohl von Wazemanns Söhnen einer sein, der ins Gejaid geritten, oder …“ die Stimme des alten Kohlmanns dämpfte sich, „oder es war von König Wutes Helden einer, der vor Tag wieder heimreitet in sein Berghaus.“

Auf Eberweins Stirne zeigte sich eine unmutige Furche. „Du redest Thorheit, Eigel!“

„Thorheit, Herr? Es ist der Untersberg, auf dem wir stehen! Und das weiß doch ein jedes Kind im Gadem, daß innen drin der ganze Berg ein einziges Gehöhl ist, eine Kemenat’ an der andern, die eine goldig und die andere silberig. Und da drinnen haust mit seinen tausend Helden der König Wute. Der hat nur ein einzig Aug’ und sitzt an einem steinernen Tisch und kann nicht aufstehen, denn sein langer Bart ist zweimal um den Tisch gewachsen. All’ hundert Jahr’ schickt er von seinen Helden einen hinauf in die Welt, und wenn der heimkehrt, fragt ihn der König. ‚Fliegen die Raben noch allweil um den Berg?‘ Und wenn der Bote sagt: ‚Wohl wohl, Herr König!‘ … dann seufzet Wute, daß die Berg’ davon erzittern, und sagt: ‚So muß ich noch schlafen hundert Jahr’!‘ Dann macht er sein Aug’ wieder zu, und der lange Bart hebt wieder zu wachsen an.“

„Schweig!“ unterbrach ihn Eberwein mit harter Stimme. „Ich will solche Rede nicht länger hören!“

Der Alle streifte den Mönch mit scheuem Blick. „Es ist doch Wahrheit, was ich red’! Ich hab’s von meiner Aehnl[1], und die hat’s von ihrem Vater. Und bist Du nicht selber, auf dem Weg von der Salzaburg, über das Walser Feld gewandert? Hast Du nicht selber den dürren Birnbaum gesehen? Er schaut sich an wie ein toter Baum und hat kein Blattl nimmer und keinen Ast. Aber wie das Feuer im Stein, so steckt noch in ihm drin das Leben und die Wachskraft, und einmal, wenn’s schier keiner nimmer hofft, wird der Baum ausschlagen und Laub treiben. Dann wird der alte Wute aus seinem Schlaf erwachen und wird hervorkommen aus dem Berg mit seinen tausend Helden und wird auf dem Walser Feld seinen Schild an den Birnbaum hängen. Und dann wird die gute Zeit wieder anheben für uns arme Leut’ … und keiner mehr wird ein Herr sein und keiner ein Knecht. Und alles, was Leid und Weh heißt, wird weggeblasen sein von der Welt, und jedem wird sein Blüml blühen und ein Glück wachsen.“ Die Stimme des alten Kohlmanns zitterte.

Mit hartem Griff umspannte Eberwein den Arm des Alten. „Eigel! Du bist kein Christ!“

Der Kohlmann nickte. „Doch, Herr, doch! Mein Vater ist älter geworden, als ich bin, und ist auch schon einer gewesen. Und wie ich zwanzig Jahr geworden bin, hab’ ich hinein müssen auf die Salzaburg, und da haben sie mir auch das Wasser über den Kopf geschütt’.“

Eberwein stand auf seinen Stab gestützt, tiefe Kümmernis in den Blicken, mit denen er dem Kohlmann folgte. „Fester sitzen nicht die Wurzeln der Eiche in den Runsen des Gesteins als die alten Mären in dieser Menschen Herzen. Will einer sie roden mit Gewalt, er reißt auch die beste Erde mit und läßt nur kahlen Grund zurück, steinig und unfruchtbar. Und gute Erde muß doch bleiben, soll die Lilie gedeihen an Stelle der Distel!“

„Herr, warum kommst Du nicht?“ rief der Kohlmann von einem Steinwall herab, den er mühsam erklettert hatte.

„Ich komme, Eigel!“ Und Eberwein folgte mit raschen Schritten.

„Wir müssen eilen, Herr, die Sonn’ will steigen!“ mahnte der Alte. „Und wir haben noch ein hartes Stückl Weg bis dort hinauf. Schau nur!“ Er deutete mit dem Bergstock nach einer steilen Felszinne, die sich hoch über ihnen mit silberigem Grau in die rotschimmernden Lüfte hob.

Sie wanderten und stiegen.

Als Eberwein, seinem Führer voraneilend, den Fuß auf die Zinne der kahlen Felsen setzte, tauchte über den Kamm der jenseit eines weiten Thals gelegenen Berge die Sonne empor, groß und strahlend, brennende Pfeile über den Himmel schießend, alle Spitzen der Berge überflutend wie mit glühendem Erz. Von schimmerndem Glanz umwoben, stand Eberwein auf seinen Stab gestützt, und im frisch anziehenden Morgenwind flatterten die Falten seines priesterlichen Kleides.

Vor seinen Füßen senkte sich der Fels in schwindelnde Tiefe, sich verlierend in wirres Gestrüpp und in den dunklen Fichtenwald, welcher alle Rippen und Rinnen der weit sich hinziehenden Berghänge umschlang wie ein grünes Gewand. Je tiefer der Wald sich senkte, desto häufiger mischte sich zwischen die finstere Farbe der Nadelbäume das lichtere Grün der Buchen und Eichen, und wo es zu siegen begann, dehnte sich in farbenbunter Schönheit, überschleiert vom ziehenden Morgennebel, ein stundenweites kesselförmiges Thal, von welchem die schmäleren Seitenthäler nach allen Richtungen griffen wie die gespreizten Finger einer riesigen Hand. Weiß blinkten die schäumenden Bäche, und aus versteckten Bergwinkeln lugten stille Seespiegel empor wie große blaue Augen, die im Erwachen den Tag bestaunen. Und zwischen Wald und Matten spärlich und weit zerstreut, winzig klein und im Morgenschatten nur schwer erkennbar, zeigten sich dunkle Gevierte - die braunen Moosdächer menschlicher Wohnungen. Das mußten armselige Hütten sein, und dennoch winkte jedes dieser Dächer herauf zur starren Bergeshöhe wie ein freundlicher Gruß des Lebens. Und rings umher, das weite Thal im Kreis umspannend, hoben sich die grauen Felsen, steil und ragend, miteinander verwachsend und wieder sich klüftend, bald eine gezahnte Wand, bald eine plumpe Kuppe, bald eine scharfe Zinne in den Himmel streckend, und hinter den Bergen wieder Berge, einer höher als der andere, ein steinernes Volk mit tausend Häuptern, die einen behangen mit grünem Schmuck, die anderen wie vor Alter weiß. Und mitten unter ihnen, alle anderen überragend, erhob sich ein gewaltiger Riese, steil aufgetürmt zur Pyramide, von der Spitze bis herunter zum grünen Wald von Eis und Schnee umgossen, wie blankes Silber leuchtend im Glanz der Morgensonne.

In Eberweins Augen standen die Thränen. Aus seinen zitternden Händen sank der Stab, und seine Arme hoben sich zum Himmel. „Herr, wen Du lieb hast, den lässest Du fallen in dieses Land! Hier laß mich leben und schaffen in Deinem Dienst …

und wenn mein Werk gelang – hier laß mich sterben!“ Mit

  1. Ahne
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_002.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)