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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Geburtstag.

Humoreske von Charlotte Niese.
(Schluß.)

Eine Zeitlang sprachen wir Kinder viel über die Geschichte von dem Haifisch, besonders mit Line, die niemals genug davon hören konnte, obgleich sie jedesmal vorher drohte, „beswiemeln“ zu wollen, ohne es aber jemals zu thun.

„So’n netten Mann!“ sagte sie dann mit lautem Seufzen. „So’n furchtbar netten Mann und was is er hübsch! So dick und rund, grad’ wie ein klein’ Engel!“

Und dann dauerte es nicht allzu lange, daß unser Jüngster, der Lines Obhut anvertraut war und schon ziemlich gut sprechen konnte, auch seine Meinung äußerte. „Furchtbar netten Mann!“ sagte er eines Tages, als Line wieder von Herrn Weber sprach, und dabei lutschte er an einem riesigen Stück Gerstenzucker, das wir ihm natürlich wegnahmen, denn es war nicht gut für ihn. Er schrie in allen Tönen, tröstete sich aber bald.

„Morgen netten Mann mich Zucker geben. Line Kuß!“

Letztere Worte wiederholte er wohl zehnmal und lachte dabei so schelmisch, bis Line dunkelroth und wir sehr aufmerksam geworden waren. Das Kindermädchen schalt. Zuerst unsern unschuldigen Jüngsten, was wir sehr übelnahmen, und darauf uns, was uns kalt ließ, und dann vergaßen wir Herrn Weber und seine Frau über einer neuen Sorge.

Wir hatten wieder eine Einladung zum Geburtstag erhalten, und nicht allein Großvater war verreist, sondern auch unsere Eltern hatten die Insel verlassen, um einen kurzen Ausflug zu machen. Was sollten wir schenken und aus wessen Mitteln wollten wir die Gabe bezahlen? Da war guter Rath theuer, denn das Geburtstagskind, Fritz Iwersen, hatte jedem von uns eine Flasche mit „Rükels“, wie er sagte, geschenkt, die wicklich recht gut roch. Wir wußten natürlich auch, was das Parfüm gekostet hatte und daß es durchaus nicht billig gewesen war - da durften wir uns nicht lumpen lassen.

Schon dachten wir daran, bei Herrn Metzger „anschreiben“ zu lassen, was wir eigentlich durchaus nicht durften, da fiel mir der Federkasten ein, den der Propst noch immer in Verwahrung hatte. Da er so schön und nun auch tadellos war, konnten Jürgen und ich ihn wohl zusammen schenken, besonders da Fritz Iwersen im Laufe der Einladung erwähnt hatte, daß er sich keine Papeterie und auch kein Eau de Cologne wünsche.

Der Federkasten war weder das eine noch das andere und ich beschloß sofort, zum Propst zu gehen und mir das kostbare Geschenk zu holen. Es war dämmerig geworden und ich lief eilig über den Kirchhof, um nach dem Garten der Propstei zu gelangen, der an einer Seite hart an den Friedhof stieß. Man brauchte nur von der Friedhofmauer an einer bestimmten Stelle hinunter zu springen, dann befand man sich mitten im Garten. Wir benutzen diesen Weg meistens und auch heute wollte ich ihn einschlagen, als ich gerade dort, wo die Mauer niedrig war, einen Mann und eine Frau erblickte, die sich starr ansahen und mich gar nicht bemerkten. Sie saßen eng aneinander geschmiegt, drückten sich die Hände und manchmal küßten sie sich. Einen Augenblick betrachtete ich sie schweigend - dann besann ich mich, ob ich plötzlich vor sie springen und sie auf diese Weise zart erschrecken oder ob ich lieber einen andern Weg nehmen sollte. Ich wählte das letztere - nicht aus Zartgefühl, sondern weil ich die eben gesehene Neuigkeit sofort und ohne Störung ausposaunen wollte.

Der Propst war dieses Mal sofort für mich zu sprechen. Er kam mir in seiner mit blauem Qualm angefüllten Studierstube sehr freundlich entgegen und fragte nach meinem Begehr. Ja, er hatte den Federkasten, mußte ihn aber suchen, weil er ihn so gut verwahrt hatte, daß er sich seines Platzes nicht mehr entsann.

„Warten Sie einen Augenblick!“ sagte er zu einer Frau, die neben der Thür saß und deren Anwesenheit ich erst jetzt bemerkte. Sie trug ein schwarz und weiß karriertes Umschlagtuch und schien geweint zu haben, wie ich aus ihrer häufigen Benutzung des Taschentuchs entnahm. Frauen, die weinten, saßen auch bei uns häufig; entweder im Hausflur oder bei unserem Vater. Sie blieben oft sehr lange, und wenn sie eine kleine Unterstützung oder sonst einen Trost erhielten, kamen sie manchmal alle Tage wieder. Deshalb nickte ich dieser Frau auch zu wie einer alten Bekannten, obgleich ich sie nie gesehen hatte, und dann platzte ich mit meiner Neuigkeit heraus.

„Denke Dir, Herr Propst, Line küßt draußen auf dem Kirchhof einen Mann!“

„So?“ sagte der Propst. Er wühlte in einem Wandschrank und schien nicht so erschüttert von dieser Nachricht, wie ich es erwartet hatte. „Nun, dann will sie wohl heirathen. Kennst Du denn den Mann?“

„Gewiß, Herr Propst! Es ist der Mann mit dem Haifisch. Du weißt doch, der Haifisch, der von der Decke hängt und der seine Frau aufgefressen hat! Jürgen sagt, die Frau ist nicht mehr drin – ich aber meine –“

„Der Mann mit dem Haifisch?“ unterbrach mich der Propst. Ihm schien die Sache sehr gleichgültig zu sein; ich aber nahm ihm diese Geschmacksrichtung in meinem Eifer übel. Es that mir zu leid, daß er die schönsten Geschichten unserer Stadt so schlecht kannte. „Nun ja, Herr Kapitän Weber ist doch der Mann mit dem Haifisch. Ein furchtbar netter Mann, der viel Geld hat und sonst auch sehr gut ist. Aber seine Frau ist von einem Haifisch aufgefressen worden und zur Strafe dafür muß der Fisch immer hängen, und er selbst ist so allein. Ich meine, der Kapitän ist allein, der heute abend die Line küßte, und ich glaube –“ hier fiel mir manches andere wieder ein - „er hat sie wohl schon oft geküßt!“

„Du mein Heiland!“ sagte die Frau in dem karrierten Umschlagtuch; sie hielt ihr Taschentuch schon lange unbenutzt in der Hand und hatte mir starr zugehört: „Du großen Gott im Himmel!“ fuhr sie fort und dann stand sie auf. „Sehen Sie, Herr Propst, hab’ ich es Sie nich gesagt? So is er nu! Das nennt er nu den Ehestand, wo er hier auf die Insel andere Fruensminschen küßt und mir ganz allein in Altna in die kleine Brauerstraße sitzen läßt! Und denn verzählt er noch schenierliche Dinge von mich - daß ich von’n Haifisch aufgefressen bin, wo ich doch in mein ganzes Leben anständig gewandelt habe und so’n Diert niemalen zu Gesicht gekriegt hab’! Nich mal in’n soologischen Garten in Hamburch, wo ich an die billigen Tagens woll gewesen bin. Hab’ ich es Sie nich gesagt, Herr Propst? So is er nu und spielt sich hier auf’n Wittmann, wo er mir doch in die kleine Brauerstraße in Altna wußte, wo ich hingezogen bin, als ich mir so über ihm ärgerte!“

Sie hielt erschöpft inne und der Propst seufzte mit dem Seufzer desjenigen, der schon eine Stunde lang dasselbe vernommen hat.

„Sie müssen nicht auf die Worte eines Kindes hören,“ bemerkte er jetzt. „Es kann alles ganz anders zusammenhängen und die Geschichte mit dem Haifisch kenne ich überhaupt nicht. Besinnen Sie sich, liebe Frau, und kehren Sie nicht lieblos zu Ihrem Manne zurück, der wohl seine Fehler hat, den Sie doch aber sehr bestraften, da Sie so lange von ihm fortblieben. Eheleute sollen Geduld miteinander haben!“

Die Frau antwortete nicht, sondern weinte bitterlich. Der Propst aber drückte mir den Federkasten in die Hand unb schob mich sanft aus der Thür. Schweigend ließ ich mir alles gefallen, denn mein einziges Bestreben war, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Athemlos stürzte ich in die Kinderstube, wo der Jüngste von den großen Brüdern unterhalten wurde; denn Line war noch nicht erschienen, um ihn zu Bett zu bringen.

Hinter mir trat sie langsam ins Zimmer. Sie schien heiß zu sein, sah aber sonst aus wie immer; sie schalt uns alle der Reihe nach aus und sagte dann, wir sollten nur hinausgehen, der Kleine würde sonst so aufgeregt.

„Ich weiß was Neues!“ rief ich nun, und Line sah mich starr an.

„Is woll was Rechtes!“ meinte sie dann in einem Tone der Verachtung, der mich stets reizte.

„Ist auch was Rechtes!“ erwiderte ich trotzig. „Kapitän Webers Frau sitzt gar nicht im Haifisch –“

„Als wenn ich das geglaubt hätte!“ unterbrach sie mich höhnisch. „Die alte Person liegt irgendwo in den südländischen Ocean tot und begraben!“

„Sie wohnt in der kleinen Brauerstraße in Altona und ist gar nicht tot!“ schrie ich triumphierend; „und heute ist sie beim Propst; und als ich sagte, daß Du und der Kapitän Euch eben immerlos geküßt habt –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 887. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_887.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2023)