Seite:Die Gartenlaube (1893) 886.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

zerfällt im ganzen in zwei Räume, in den Wohnraum, der zugleich einem erwachsenen Kinde oder einem Gehilfen zur Schlafstätte dient, und in das große Familienbett, das den hinteren Theil einnimmt und dem Besitzerehepaar nebst den kleineren Kindern zum gemeinsamen Lager dient.

Puppen an ihren Fäden.

Kojenbetten finden sich nirgends. Niemals ist mehr als ein erwachsenes Kind bei der Truppe, die anderen müssen sich selbst ihr Brot suchen; nur eines kann die Kunst der Eltern erben. Denn es herrscht Armuth in diesen Kreisen der Fahrenden, bittere Armuth. Wohl sind noch manche so stolz wie Walther von der Vogelweide, der von sich singt:

„Getragene Kleider nahm ich niemals an,“

aber es sind ihrer nicht mehr viele. Oft sieht man Männer, Frauen und Kinder in Gewändern, die einst bessere Tage geschaut haben. Wenn das Geschäft schlecht geht, dann bleibt eine Kiste, auch zwei, ja sogar der Wohnwagen dem Wirth zum Pfande, und die Besitzer können von Glück reden, wenn sie 30 deutsche Reichsmark dafür geborgt bekommmen. Die Spielkosten selbst sind nicht bedeutend. Aber der Gewerbeschein kostet 150 Mark das Jahr! In Dörfern und kleineren Städten bekommen die Puppenspieler den Saal meist frei, weil ihre Aufführungen ordentlich Gäste herbeiziehen, die vergnüglich ihr Bier dabei trinken – in manchen Städten aber muß der Unternehmer für die Erlaubniß, des Abends zu spielen, jedesmal drei Mark in die Armenkasse zahlen. Nicht jeden Abend wird gespielt; sondern meist nur an vier Tagen, Sonntags, Dienstags, Donnerstags und Sonnabends; am Sonntag kommt noch eine „Nachmittagsvorstellung für Kinder“ hinzu mit dem Hauptzugstück „Kasper in tausend Aengsten“, in dem der Held schwer unter den Stößen eines Ziegenbockes zu leiden hat. Dann faßt Furcht und Mitleid ganz nach Aristoteles das Herz der Kleinen an, und mit geballter Faust droht ein kleiner Bube mit lauter Stimme: „Wart’, Du alter Geißbock!“

Hinter den Coulissen.

Beim Beginn der Vorstellung ist hinter der Bühne alles wohl vorbereitet, die Puppen sind sorgsam angekleidet, Noch einmal werden sie gemustert, ob auch kein Knopf offen geblieben ist. Rechts und links stehen je zwei Coulissen, dahinter die Rückwand. Zwischen dieser und den hintersten beiden Coulissen ist oben eine starke Leiste quer über die ganze Breite der Bühne gelegt, verdeckt durch ein von oben herabhängendes, den Himmel darstellendes Tuch. An der Leiste befinden sich eiserne Ringe, in die jede Puppe vermittelst eines Hakens eingehängt wird, und zwar so, daß in ruhigem Zustande ihre Füße genau den Boden berühren. Hände und Füße lassen sich durch besondere Fäden bewegen. Nur „Kasper“ kann außerdem mit dem Munde und den Augen wackeln, ein Vorrecht, von dem er denn auch häufig genug Gebrauch macht.

Die Puppen, welche bei Beginn des Stückes sich auf der Bühne zu befinden haben, baumeln bereits an ihren Haken, die übrigen, welche später „auftreten“ müssen, liegen oder hängen angekleidet hinter den Coulissen. Hinter der Rückwand, etwa einen Meter über dem Fußboden, läuft ein festes breites Brett, worauf während der Aufführung die das Spiel leitenden Personen Posto fassen. Meist sind es deren zwei oder drei. Für mehr ist kaum Platz. Von da aus können sie die Puppen bequem an den Fäden regieren, hinauf- und hereinführen. In der Nähe ist ein kleines Lesepult angebracht, aus dem zwischen zwei dünnen brennenden Stearinkerzen der Text des Stückes aufgeschlagen liegt. Von hier aus wird auch das Blitzen und Schießen besorgt, das nicht selten die Glanzpunkte des Stückes ausmacht, während das Buntfeuer seitlich hinter den Coulissen angezündet wird.

Die Vorstellung.

An den Wänden hängen Puppen und Puppenkleider, eine papierne Hirschkuh für die „Genovefa“, jener Ziegenbock für „Kasper in tausend Aengsten“, kleine Waffen, Schilde und Helme, allerlei Hausrath für die Bühne, Bank, Tisch, Stühle und Paradebett, letzteres ein besonders schätzbarer und effektvoller Artikel. Dort steht ein Altar und da ein kleiner Heuwagen. Kurz, alles, was auf den Brettern zu erscheinen hat, welche die Welt vergangener Jahrhunderte bedeuten, das findet sich hier aufgestapelt. Auf dem Fensterbrett steht die Klingel, die zum Schweigen mahnt, und in der Ecke der Leierkasten, neuerdings auch „Drehpiano“ genannt, der in den Pausen seine alten Weisen erklingen läßt.

Von Ende August bis Ende Mai etwa reicht die Spielzeit dieser Fahrenden. Da sind sie auf Jahrmärkten wie in stillen Dörfern zu finden und spinnen durch ihre Thätigkeit die alten Volksüberlieferungen weiter. Wohl sind die alten Texte oft ins Unverständliche, ins Lächerliche verzerrt; aber es ist doch, als ob die Spieler etwas von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe empfänden und sich dem Laien gegenüber fühlten als Träger unveräußerlicher Güter des Geistes, welche man wohl bewundern, nicht aber in seine profanen Hände bekommen kann.




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 886. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_886.jpg&oldid=- (Version vom 23.5.2020)