Seite:Die Gartenlaube (1893) 884.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


zusammengehalten wird. Schon hat die Gesellschaft an der Mündung des Tana, der so oft in der Schilderung Hertzkas erwähnt ist, eine bedeutende Landschenkung erhalten, ganz erhebliche Summen sind zum Theil von bedeutenderen Geldleuten gezeichnet; am 8. Mai 1893 konnte Hertzka zu Berlin im Architektenhause vor der Berliner Freiland-Ortsgruppe den Zeitpunkt für die erste Exkursion nach dem Hochlande des Keniagebirges ankündigen, und vor einigen Wochen ging durch die öffentlichen Blätter die Mittheilung, daß im Februar nächsten Jahres die erste Freiland- Expedition mit zweihundert Theilnehmern von Hamburg aus in See gehen werde.

Damit sind wir bei der unmittelbaren Gegenwart angelangt. Wird das Unternehmen des Freiländischen Aktionskomitees erfolgreich sein? Und wenn ja, wird es möglich sein, auf der im Vorhergehenden geschilderten Grundlage wirklich diejenigen Gemeinschaften von Menschen heranzubilden, welche dem Geiste des Organisators vorschweben? Sollte wirklich gerade derjenige Erdtheil, der den Namen des „schwarzen“, des „dunklen“ führt, dazu berufen sein, der Alten Welt das Wichtigste zu geben, was überhaupt der Menschheit gegeben werden kann, eine neue und höhere Gesellschaftsordnung?

Es ist sehr schwer, diese Fragen ruhig und sachlich zu beantworten. Warum sollte nicht dem Oesterreicher Hertzka in Afrika möglich sein, was dem Württemberger Rapp einsteus in Amerika gelang? Warum sollte es undenkbar sein, daß ein paar Hunderte oder ein paar Tausende mit zäher Ausdauer und vollem Bewußtsein der civilisatorischen Tragweite ihres Versuches auf das Hochplateau des Kenia wandern, um dort der athemlos harrenden Menschheit das Beispiel eines Gemeinwesens vorzuleben, das die bisherigen an wirthschaftlichen Erfolgen, an irdischem Wohlbehagen und an vernunftgemäßen Einrichtungen übertrifft?

Man wird ja wohl allen diesen Versuchen gegenüber zweifelsüchtig sein können, ja müssen, aber man wird nicht ohne weiteres sagen dürfen, daß es eine unbedingte Utopie ist, welcher die Anhänger der Freilandbewegung sich verschreiben und verschrieben haben. Es kommt alles auf die Eigenschaften der Menschen an, die sich betheiligen. Werden die Freiländer und Freiländerinnen die Ausdauer und die Begeisterung haben, um allen Schwierigkeiten, allen Mühseligkeiten und unerwarteten Gefahren, die sich der Verwirklichung der glückverheißenden Assoziationen entgegenstemmen, in ruhiger Ueberlegenheit die Spitze zu bieten? Wird es möglich sein, die jahrhundertealten Vorurtheile und wirklich verschiedenartigen Eigenschaften der verschiedenen Völker und Rassen zu überwinden? Die Hoffnung jedenfalls ist dafür vorhanden, und wer möchte sich anmaßen, sie zu zerstören?

Es wird gesagt werden können, daß unter den verschiedenen Täuschungen und Wahnvorstellungen, die in so breitem Umfange auch in der modernen Zeit noch ihre Herrschaft ausüben, die Hoffnung zweifelsohne nicht die schlechteste und aussichtsloseste ist, es möchte gelingen, auf der Keniaplatte ein unternehmendes Völklein körperlich und geistig normaler und strebsamer Europäer festzusetzen; nur werden auch im besten Fall die Dinge im Raume bedenklich träger sich gestalten als in der beweglichen Phantasie des Leiters der Freilandbewegung. Auch muß jeder, der mit demselben in die Ferne zieht, sich darüber klar sein, daß er sich einer Unternehmung anschließt, deren Ausgang im höchsten Grade unsicher ist.

Aber wenn nun auch wirklich durch ein Zusammentreffen günstiger Umstände dieser Versuch in kleinerem Maßstab gelänge – wäre damit der Beweis geführt, daß diese neue Gesellschaftsordnung sich allgemein bewähren würde? Diese Frage wird wohl unbedingt mit „Nein“ zu beantworten sein, wenn das Gelingen auch jeden Menschenfreund mit hoher Befriedigung erfüllen müßte.

*      *      *

Wir schließen hier unsere Betrachtungen über die „Weltverbesserer“. Geniale Denker wie Plato, Thomas Morus und Fichte, schwärmerische Sonderlinge wie Fourier, begabte Praktiker wie Owen und Rapp, eifrige Agitatoren wie Marx, phantasievolle Dichter wie Bellamy und unternehmende Köpfe wie Hertzka sind an unserem Geiste vorübergezogen. Und was war oder ist für alle diese Männer der Endpunkt ihres Denkens, Strebens oder Träumens? Eine ideale Verfassung der menschlichen Gesellschaft, ein vollkommenes Dasein! Dem Glauben an die Erreichbarkeit dieses Ideals sind die Gebilde ihres Geistes entsprungen, und das fordert unsere Achtung, auch wo diese Gebilde vor dem prüfenden Verstande nicht Stich halten, wo sie als „Utopien“ sich erweisen. Wohl ist es ein „Ziel, aufs innigste zu wünschen“, daß die Menschheit fortschreite zu immer höheren Entwicklungsstufen. Aber an einem Punkte werden alle Wünsche eine Grenze finden: das Menschengeschlecht ist und bleibt unvollkommen, und es wird seine Unvollkommenheit mit hineinnehmen auch in die denkbar besten Schöpfungen menschlicher Staatskunst. „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – das ist eine Wahrheit, die uns bescheiden machen muß, auch wenn wir mit dem Dichter des Glaubens sind:

Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Thoren.
Im Herzen kündet es laut sich an:
Zu was Besserm sind wir geboren;
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.




Unter fahrenden Leuten.

Von Alexander Tille.0 Mit Zeichnungen von O. Herrfurth.

Unruhig schauen die Kinderaugen aus dem Schulzimmer hinaus nach der Straße, dorthin, wo die Schankwirthschaft liegt. Gleich, den Augenblick, muß die Uhr schlagen und dann geht’s hinaus, das große neue Ereigniß in näheren Augenschein zu nehmen. Der Lehrer bemerkt die Unruhe wohl, die in den kleinen Köpfen herrscht, aber er kennt ihren Grund nicht, denn er hat ja nicht vor einer Viertelstunde den großen roth angestrichenen Wagen mit den drei grünverhängten Fenstern auf jeder Seite und dem Mann im rothen Halstuch auf dem Bocke vorbeifahren sehen. Die Kinder aber beschäftigt die Frage: Wird der Wagen vor der Schenke halten? Sind es Seiltänzer? Zauberkünstler? Puppenspieler? Werden sie die „Genovefa“ spielen?

Da hebt die Glocke auf dem Kirchthurm gegenüber zu schlagen an, der Lehrer schließt, und fort stürmt die Kinderschar, um zunächst den „Wohnwagen“ in näheren Augenschein zu nehmen, der wirklich vor der Schenke hält. Menschen, die in einem Wagen wohnen! Und nicht wie andere in Häusern! Ob sie wohl Kinder haben? Ob diese mit in die Schule kommen werden wie letzten Winter die Kinder des Zauberers, dessen älteste Tochter mit zum Pfarrer in die Konfirmationsstunde ging?

Neugierig umdrängt die Kinderschar das geheimnißvolle Gefährt. Die Pferde fressen aus der Holzkrippe an der Thür der Schenke, um dann wieder zurückgeführt zu werden in das Dorf, wo sie gemiethet worden sind; denn sie sind nicht Eigenthum des Wagenbesitzers. Es kommt ja doch auch vor, daß der Wohnwagen weite Strecken auf der Eisenbahn befördert wird, während die Familie zu Fuße ihres Weges zieht. Jetzt sind sie eben beschäftigt mit Auspacken. Die Pfosten und Bretter, welche an Ketten unter dem Wagen in der Schwebe hingen, sind bereits abgenommen. Der Besitzer des Gasthofes war schon vorher verständigt, und jetzt werden die Böcke, Leisten und Latten oben in dem kleinen Saale, dessen Dielen freilich schon bedenklich durchgetanzt sind, zur Bühne zusammengestellt; denn Puppenspieler sind es, welche hier ihre Künste zeigen wollen. Früher mußte die Bühne jedesmal zusammengenagelt werden, so noch bei dem Vorgänger des jetzigen Besitzers, dem Vater der Frau, bei dem der Mann als Gehilfe in Arbeit stand. Damals waren noch andere Zeiten! Heute ist längst alles praktischer eingerichtet, und wenige Schrauben halten das Gerüst besser zusammen als dreimal soviel Nägel. Zwei kleinere Kinder helfen eifrig mit, während die erwachsene Tochter schon auf dem Wege durchs Dorf ist, um Zettel zu vertheilen; denn morgen soll bereits gespielt werden, und dazu bedarf es einer sorgfältigen Vorbereitung „eines geehrten Publikums“.

Vor den Augen der staunenden Dorfjugend, die sich nur bis an die Treppe wagt, wandern drei große Kisten in den Saal hinauf. Oben entwickeln sich aus der einen die Coulissen mit

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 884. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_884.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2022)