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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Ich stand ein Weilchen davor, weiß aber nicht, was ich eigentlich gesehen habe. Dann schritt ich abermals weiter, immer weiter, unter dem alten Thorbogen des Städtchens hindurch und längs des Wassers an der Stadtmauer hin, bis ich vor dem Gartenpförtchen des Brenkenhauses anhielt. Der Wind verstummte hier ganz, die Mauer hielt ihn völlig ab. Jenseit derselben ächzten und klapperten die dürren Zweige der Bäume, und die Wetterfahne auf dem Dache der Laube gab einen klagenden unheimlichen Ton von sich, wenn der Wind sie um ihre rostige Achse drehte.

Ich hatte ganz mechanisch auf die Klinke der Pforte gedrückt und fand diese unverschlossen. Einen Augenblick schoß es mir wie Aerger durch den Kopf: es war doch über alle Begriffe leichtsinnig, das Grundstück so unverwahrt zu lassen! Dann hatte ich nur noch Sinn für die zwei man erleuchteten Fenster drüben im Hause - ihre Fenster!

Da stand ich in dem windigen dunkeln Dezemberabend und starrte hinauf. Mit der Hand hatte ich den Stamm eines jungen Obstbaumes umklammert, als ob ich mich selbst halten müsse, um nicht emporzueilen und sie in meine Arme zu nehmen, meine Leni!

Droben ward jetzt ein Fenster geöffnet und eine Gestalt beugte sich heraus, wie horchend, einen Augenblick nur - dann verlöschte das Licht. Sie ging wohl zur Ruhe. Würde es die finden, das arme erregte kleine Herz? Es überkam mich ein inniges Mitleid mit ihr. Am Ende wäre es doch besser gewesen, ich hätte sie heute abend noch gesehen, ihr noch ein paar liebe Worte gesagt, sie versichert, daß sie dem alten Onkel seine Jugend zurückgezaubert habe , daß er sie dafür zu einer glücklichen geliebten Frau machen wolle, welche die Noth und Plage des Lebens nicht mehr kennen solle.

Was mochte ihr nur sein? Diese Ohnmachten! Sie sah neulich gar nicht nach schlechten Nerven oder Kränklichkeit aus! Aber freilich, Leni war auch so blühend als junges Mädchen und trug doch den Keim des Todes in der Brust. Eine namenlose Sorge ergriff mich plötzlich. Wenn sie, wenn sie auch - - es war ja gar nicht unmöglich, die schreckliche Krankheit war so oft erblich ! Ich starrte in peinvoller Angst zu dem Fenster empor wie damals. Stirb nicht! Du darfst nicht sterben - zum zweiten Male! Ich trüge es nicht! Wie damals forderte ich es und wie damals fühlte ich die Machtlosigkeit des Menschen gegen sein Schicksal.

Wie lange ich da stand, weiß ich nicht. Jeder frohe Zukunftsgedanke war entschwunden. Der Sturm hatte sich mittlerweile ein wenig vermindert, aber nun schlugen große Regentropfen hernieder und ich wandte mich zum Gehen. Ich schritt hinter einem Boskett herum, denn es lag eine eigentümliche Helligkeit in der Luft, obgleich der Mond nicht schien, und ich fürchtete, Hella oder die Tante könnten mich erkennen; sie brauchten mich gerade nicht bei meinem Schmachten vor Sabinens Fenster zu ertappen. Hella, das garstige Ding, hätte jedenfalls reichlichen Stoff zu lebenslänglichen Neckereien gehabt.

Auf einmal blieb ich stehen; dicht an mir vorüber war etwas gegangen; nein, nicht gegangen - gelaufen, geflogen, eine schlanke schwarze Frauengestalt. Unter den leichten Schritten knirschte der Kies - ich hatte auch etwas gehört - ein Stöhnen, dann war sie wie ein Spukgebilde entschwunden Dort unten an der Mauerpforte mußte sie sein! Rasch ging ich nach. Hella? Aber sie konnte es nicht gewesen sein, sie war kleiner und - um Gotteswillen, was wollte Bine hier?

Als ich an der Pforte anlangte, war sie fest ins Schloß gefallen und der eiserne Schnapper wich meinen Bemühungen nicht. Ueber mir peitschten im Winde die kahlen Reben des wilden Weines die Mauer und die Wetterfahne seufzte noch melancholischer als zuvor; ich aber stand wie zu Eis erstarrt, denn draußen, dicht vor der Pforte, hörte ich Binens süße weiche Stimme: „Denke nicht schlecht von mir - ich könnte nicht weiter leben ohne ein Abschiedswort, ohne zu wissen, daß Du mir nicht zürnst. - Ach, vergieb mir, Georg, vergieb mir, daß ich - ach, Du weißt ja nicht!“

Eine Antwort kam nicht.

„Georg!“ Sie schrie es fast zornig. „Hast Du denn kein Mitleid mit mir? Fühlst Du denn nicht, daß ich tausendmal unglücklicher bin als Du? Ach, wenn ich wüßte, was ich anfangen sollte - wenn ich sterben dürfte! Sterben, das wäre das Beste!“

Die Stimme erstarb, wie überwältigt von Angst und Weh.

„Sprich doch ein Wort, Georg,“ flehte sie weiter, „ein einziges! Denke doch, wie ich gekämpft habe und gerungen. Ach, der fürchterliche Tag heute und - ich kann ja nicht anders, ich weiß keinen Ausweg !“

Da endlich sprach er: „Nein, Du kannst nicht anders, natürlich nicht!“ Es war eigentlich nur ein Gemurmel. „Und wenn man so ein Bettelmann ist -“ setzte er bitter hinzu.

„Ach, um mich allein, Georg, ist es nicht, aber die alte Frau und Hella -“ Und nun kam kein verständliches Wort mehr, nur Schluchzen, krampfhaftes Schluchzen, heiße Küste. „Nie wieder nie!“ sagte sie, „leb' glücklich, Georg, vergiß mich!“

„Glücklich!“ Ein kurzes hartes Auflachen. „Vergessen?“

Sie schluchzte wieder. „Ich muß zurück!“ stieß sie endlich hervor.

„Du mußt?“ fragte er laut. „Ja, mußt Du? Dann leb' wohl!“

„Sieh nicht so furchtbar starr aus, Georg!“

Nun ein Rütteln an der Thür, ein banges: „Um Gotteswillen, sie ist zugefallen!“ Dann wieder ein ängstlicher Versuch, ein neuer Ausbruch des Abschiedsschmerzes. „Ach, ich kann nicht leben ohne Dich, Georg!“

„Aber Du sagst doch, Du mußt, Sabine?“

„Ja, aber ich kann nicht lügen - und nun soll mein Leben nur noch eine einzige Lüge sein!“

Ich hatte auf einmal die Kraft, den Riegel zurückzuschieben, und lehnte mich gegen die Mauer.

„Es ist ja offen,“ sagte er dann.

„Noch einmal, leb' wohl - auf immer!“

„Ich ertrag' es nicht, ich will es nicht ertragen,“ stöhnte plötzlich der Mann. „Du darfst mich nicht verlassen, Bine - Doch geh' nur, geh'!“ Und wieder ein Kuß, der kaum enden wollte. Dann flog die Pforte so heftig zurück, daß sie mir fast gegen die Stirn schlug, und Sabine schwankte in den Garten.

Sie sah mich nicht. Die Gartenthür wurde von außen zugezogen; das Mädchen ging langsam mit gesenktem Kopf weiter; eine Ewigkeit dauerte es, bis sie im Hause verschwand.

Ich richtete mich langsam auf, wischte mir die Regentropfen aus dem Gesicht und zog den Riegel wieder zurück; dann trat auch ich ins Freie. Niemand mehr hier, so finster und verlassen dieser öde Weg, als habe sich nicht eben das Schicksal dreier Menschenherzen hier entschieden

Im Gasthof angelangt, saß ich in der warmen Stube am Ofen, und Böhme, der gute Kerl, stand vor mir und sah mich mit ganz entsetztem Gesicht an.

„Der Herr Major fühlen sich doch nicht krank?“

„Nein, nein! Bloß die verdammte Reise und das Hundewetter!“ murmelte ich.

„Es ist ein Briefchen da für den Herrn Major.“

Ich öffnete es und fand eine Einladung von meinem alten Bekannten, dem Kommandeur. Er habe erfahren, ich sei angekommen, und ob ich ihm und den übrigen Kameraden nicht die Freude machen wolle, an dem Austernessen theilzunehmen, das heute abend stattfinde. Ich kannte diese Mode voll früher her; das Offizierscorps ließ voll Hamburg ein Fäßchen Austern kommen und aß sie in vollzähliger Sitzung drunten im Speisesaal

Ich hielt den Brief gedankenlos in der Hand.

„Befehlen, daß ich bestelle, der Herr Major seien zu angegriffen?“

„Nein, ich werde kommen! Bestelle, ich würde die Ehre haben. Dann hilf mir, mich umzuziehen!“

Eine halbe Stunde später saß ich auf dem Ehrenplatz inmitten einer liebenswürdigen Gesellschaft; ich sprach, ich trank, ich frischte mit dem Kommandeur alte Jugenderinnerungen auf - es ist mir noch heute schleierhaft, wie ich das konnte, aber ich fühlte nichts mehr, es war, als ob mit einem Male alles in mir tot sei.

„Wo ist denn Felsenberg?“ fragte plötzlich der Oberstlieutenant, und jedermanns Augen richteten sich aus den leeren Stuhl am unteren Ende der Tafel.

„Er war vorhin schon auf dem Wege hierher.,“ berichtete einer der Herren, „ich begreife nicht, wo er bleibt!“

„Da kommt er ja!“

Die Thür hatte sich geöffnet und der Vermißte trat ein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 878. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_878.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2017)