Seite:Die Gartenlaube (1893) 855.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Christstollen, Zucker, Pfefferkuchen, Aepfeln, Nüssen, Puppen, Kleidern, Bildern, Büchern, Schreibtafeln, Federn und Papier zu füllen. Auch die Christruthe darf nicht fehlen zur heilsamen Mahnung. Der Vater versäumt nicht, die Bündel der Kleinsten noch durch ein paar Knoten möglichst fest zu verschließen; denn das Auspacken ist ja das Hauptvergnügen. Jetzt werden die „Bürden“ der Reihe nach auf ein Tuch in die düstre Ecke gelegt. Auf dem Tisch glänzen seitlich ein paar Kerzen, denn noch ist es nicht üblich, einen Lichterbaum üher die ausgelegte Bescherung strahlen zu lassen. Die Glocke klingt, und die Kinderschar stürmt ins Zimmer. Große und Kleine bemächtigen sich ihres Bündels, und nun geht’s ans Auspacken!

Da pocht der Klopfer an die Hausthür. Ein jäher Schreck fährt allen durch die Glieder. Das sind die Christlarven! Im Nu wird wieder eingepackt, so rasch die Bestürzung es erlaubt. Wie konnte man auch über der Festfreude die drohende Gefahr vergessen! Jetzt donnert’s schon förmlich gegen die Thür. Der Hausherr öffnet und, ihn fast umrennend, stürzt eine wilde Schar nach dem Zimmer der Bescherung. Der Knecht Ruprecht voran. Er ist ganz in Pelze gehüllt und trägt über dem Arme einen Sack, in den er die unartigen Kleinen stecken will. Die Kinder flüchten sich scheu hinter den Tisch oder suchen Schutz bei der Mutter.

Dann beginnt auf der anderen Seite des Tisches das Christspiel. Rupertus fragt und Petrus erzählt. Dazwischen sprechen die Engel einige Worte, und Joseph giebt den Spaßmacher ab, indem er seine Rede mit allerlei Anspielungen würzt, die meist in keinerlei Zusammeuhang mit dem Stücke stehen, aber ihre Wirkung nicht verfehlen.

Das Spiel, dem die Kinder andächtig lauschen, ist bald zu Ende und nun wollen die einzelnen Personen des Stückes kleine Geschenke austheilen, für die sie nachher vom Hausherrn eine Geldsumme bekommen, die in keinem Verhältniß zu ihren geringen Gaben steht. Christus beginnt; indessen die Empfänger haben keine Lust, hervorzukommen und ihre Geschenke in Empfang zu nehmen: sie fürchten zu sehr die Späße, denen sie sich dabei aussetzen. Aber der heilige Christrath weiß dafür Abhilfe. Mit einem Schlage springen sämtliche vermummte Gestalten auf, und es beginnt in dem Zimmer, auf dem Hausflur, trepp auf, trepp ab, durch Kammern und über die Böden eine tolle Jagd. Wehe dem, der sich erwischen läßt! Die erwachsene Tochter des Hauses steht furchtsam in einer Fensternische, halb hinter einem Schranke verborgen. Zweimal, dreimal ist die Gefahr bereits glücklich an ihr vorübergegangen – endlich ist sie gefunden. Ein kräftiger Kuß auf ihre rothen Lippen besiegelt trotz alles ihres Sträubens die Freude des Finders und noch mehr als einmal wird sie unversehens umarmt. Das ist nun eben das verbriefte Recht der Christlarven.

Die Christlarven vor der Kirche.

Um sich der nnruhigen Gäste möglichst bald zu entledigen, läßt der Hausherr Bier in großen Mengen auftischen und giebt dem Christus das übliche Geldgeschenk. Aber noch machen die Larven nicht Miene, weiter zu ziehen. Sie bemerken plötzlich, daß bei der Beschenkung jemand vergessen worden ist, der sich bis jetzt verborgen hat, und so beginnt die Jagd denn aufs neue. Abermals wird das Unterste zu oberst gekehrt. Endlich ist auch das letzte Opfer aufgetrieben, und allerlei Schabernack bleibt ihm nicht erspart.

Jetzt denken die Larven an Aufbruch. Die Abzeichen ihrer Würde, der Sack, der Bischofsstab und der Heiligenschein, die bei dem tollen Treiben beiseite gelegt worden waren, werden wieder aufgenommen und unter Johlen und Schreien geht’s aus dem Hause – zur nicht geringen Freude der Familie.

Bald ist überall wieder Ordnung geschafft, und schon wendet sich jedes wieder seinen Geschenken zu. Da tönt vom Nachbarhause ein Lärm herüber, daß die Scheiben klirren. Alles stürzt an die Fenster und einige Muthige blicken sogar durch die geöffnete Hausthür hinaus. Drüben läßt ein vorsichtiger Hausvater die Christlarven nicht herein, sie aber suchen durch einen höllischen Lärm den Eingang zu erzwingen. Die Thür birst fast unter den Stößen, es ist ein Heulen, Johlen, Pfeifen, Brummen, daß einem Hören und Sehen vergeht. Leitern werden angelegt; und ein Mädchen, das eben zum Fenster herausschaut, wird zur Strafe seiner Unklugheit solange abgeküßt, bis ein gewaltiger Besen von drinnen den kecken Angreifer verscheucht. Endlich läßt das Toben nach – und gleich darauf herrscht Totenstille. Da auf einmal ruft eine Grabesstimme, der Heiland selbst sei dagewesen und habe dem Hause seine Gaben und seinen Segen bringen wollen. Nun nehme er beides wieder mit fort.

Dann geht’s weiter vor eine andere Thür.

Je mehr Häuser bereits heimgesucht sind, desto eiliger haben es die Christlarven und desto kürzer bemessen sie ihre Besuche. Denn noch ehe es vom Thurme der Stadtkirche neun Uhr schlägt, müssen sie die Runde gemacht haben. Um Neun rufen die Glocken zur Christmette, die bis Schlag zwölf Uhr dauert, und auf der Straße die Kirchgänger zu necken, das tst ein noch weit größeres Vergnügen, als in den Häusern Muthwillen zu verüben.

Schon sieht man ganze Scharen nach der Kirche pilgern, da erschallt plötzlich der Ruf: „Die Christlarven sind da!“ und sofort beginnt an den Kirchthüren ein heftiges Gedränge, jedes will sich in Sicherheit bringen. Aber schon fliegen die Schneebälle der Larven über die Köpfe hin, und ein Widerspenstiger wird auf dem Markte im Schnee gerollt. Da tönt Geschrei aus einer kleinen Nebengasse. Die Stadtsoldaten haben zwei Christlarven festgenommen, weil sie die Wachtstubenthür eingestoßen haben. Die beiden Opfer werden fortgeschleppt, aber die Genossen eilen zu ihrer Hilfe herbei und es giebt eine tüchtige Rauferei. Für diesmal gelingt es noch, die Gefangenen zu befreien, aber am nächsten Morgen erfährt man zur allgemeinen Trauer, daß zwei andere Larven, darunter der Heilige Christ selbst, in sicherem Gewahrsam hinter Schloß und Riegel sitzen.

Vergebens haben sich die Christlarven nach den Schulknaben umgesehen, von denen sie glaubten, daß sie ihnen Konkurrenz machen würden. Jetzt löst sich das Räthsel: unter Leitung ihres fürsichtigen Lehrers und Kantors der Stadtkirche naht in feierlichem Zuge die Schar der Schüler, jeder in der Hand eine Kerze als Christfackel. Beim Eintritt in die Kirche erklingt aus ihrem Munde der alte Weihnachtsgesang, mit ernstem Schritt durchziehen sie das Schiff. Jetzt sind sie zu Ende, sie steigen zum Chor auf, und die eigentliche Mette beginnt, die erst um Mitternacht schließt.

Aher nur ein Theil der Stadtbewohner weilt in der Kirche. Andere feiern den Weihnachtsabend in althergebrachter Weise daheim unter allerlei ernsten und losen Bräuchen. Ernst sitzt die Runde um den großen Tisch, da tritt eines mit einem Licht ein, geht um den Tisch und verläßt schweigend wieder die Stube. Alle aber schauen erwartungsvoll nach der Wand: denn wessen Kopf beim Scheine dieses Lichtes keinen Schatten wirft, der muß dieses Jahr sterben. Dort kehrt die Magd, ehe sie zum Abendessen in das Haus geht, flugs noch einmal den Schnee weg vor den Schweineställen und horcht an der Thür. Da raschelt es drinnen wie Hobelspäne und nun ist es ihr gewiß, daß sie einst das Weib eines Schreiners werden wird. Da sucht man in den Stubenwinkeln rückwärts Haare und schließt daraus, ob man einen blonden oder einen schwarzen Ehegatten bekommen wird. Die künftige Verehelichung steht dabei immer im Mittelpunkte des Interesses. Wenn dann in der ersten Stunde des neuen Tages die Kirchgänger nach Hause zurückkehren, dann wacht die Festfreude noch einmal auf. Ein fröhliches Mahl vereint das ganze Haus am Tische, und erst lange nach Mitternacht endet die deutsche Weihnachtsfeier der guten alten Zeit.


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_855.jpg&oldid=- (Version vom 8.5.2023)