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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

ringsum viel Schluchzen und Weinen, aber in den hohen Cypressen um das Denkmal her rauschte der Südwind mächtig und voll, und die Lichter schienen heller aufzustrahlen.

Abseits in einer schmalen Gräberstraße, wo zumeist nur ärmliche Hügel lagen, mit wenig oder gar keinem Schmuck, stand eine rüstige Bürgersfrau mit ihren Kindern vor dem Grabe des Vaters. Sie hatten das schmale Viereck mit brennenden Kerzen besteckt und beteten nun halblaut im Chore. Franz Rainer, der in anderen Ländern und anderem Bekenntniß erzogen war, fühlte sich fremd angemuthet von diesem Beten; es kam ihm ein wenig mechanisch vor. Aber nach einigen Minuten zog die Frau ein neues Päckchen Kerzen aus dem Mantel und fing mit ihren Kindern an, die ungepflegten Gräber zu schmücken, die rechts und links lagen. „Die armem Leute, die sollen änch ihr Licht und ihr Vaterunser haben, es denkt wohl keiner in der Welt mehr an die,“ sagte sie.

Vor einer anderen breiten und schön gepflegten Grabstätte standen zwei Männer, der ältere eine rüstige Gestalt in Reisekleidern, der jüngere mit blassem Gesicht und in gebeugter Haltung. Der erste brach sich von einem Lebensbaum ein Zweiglein ab und legte es, ins Taschenbuch. „Das nehm’ ich meiner Frau mit,“ sagte er. Dann umarmte er den Begleiter und fuhr fort: „Wir wollen auch aus der Ferne immer treu zusammenhalten, Bruder, wir sind ja die letzten vom Geschlecht!“

„Gewiß,“ antwortete der Jüngere mit heiserer Stimme. „Und wenn ich erst diesen lästigen Husten los bin, im Frühling, dann besuch’ ich Euch. Du kannst es Deiner Frau sagen.“

„Das versteht sich,“ erwiderte der ältere Bruder und wandte sich ab, „so ein Katarrh, was macht denn das!“ Indessen fing der Jüngere gleichsam verstohlen an zu husten, und als er das Tuch vom Munde zurückzog, sah der lauschende Franz, wie es roth auf dem Tuche schimmerte. Der Bruder machte sich an dem Grabe zu schaffen und that, als sehe er nichts.

Da überkam es den jungen Schriftsteller wie eine heiße Scham und ein Widerwillen gegen seine ganze Notizenjagd, und eilig schritt er dem Ausgang des Friedhofs zu.

Draußen war es schon ganz dunkel geworden und der Wind wehte kühler und schärfer. Franz Rainer mied die Landstraße. Auf ziemlich verlassenen Seitenwegen schritt er der Stadt zu, um auch hier durch minder belebte Straßen seine Wohnung aufzusuchen.

Ihm war wunderlich zu Muthe, wie er so einsam dahinging durch den grauen feuchten Novemberabend. Er versuchte, geistig neben sich selbst zu treten und seine Stimmung zu beobachten, eine seltsam aufgeregte Stimmung, ein inneres Beben und Frösteln, als ob lange zurückgedämmte Empfindungen aus der Seele heraustreten wollten, um von draußen zu den Sinnen zu sprechen mit der Stimme der Elemente, mit dem Pfeifen des Windes und dem leisen Aechzen der aneinander vorbeistreifenden entlaubten Aeste.

Es lief etwas neben ihm her, knisternd und raschelnd, ein dürres Blatt, zusammengeschrumpft und braunroth gefärbt. Der Wind mochte es hinter ihm hergesandt haben, mit in die Stadt hinein. Bald hüpfte es auf dem Bürgersteig ein klein wenig vor den Fuß des Wandernden, bald wieder zurück, immer treu ihm zur Seite, immer raschelnd und plaudernd, und Franz Rainer glaubte seine eigene Seele zu hören. „Einsam, einsam und unstet wie ein dürres Blatt, das von seinem Baume verweht ist; ohne etwas Liebes, und wäre es auch nur ein liebes Grab. Ein dürres Blatt, das raschelt und weht ... bis es vergeht ...“

„Um Gottes willen,“ sagte er endlich vor sich hin und freute sich, seine eigene Stimme zu hören, „Symbole sehe ich, und wenn ich mich nicht zusammennehme, so sehe ich auch noch Gespenster! Was hast Du mir hier nachzulaufen, dummes Ding?“

Die Frage war sehr begründet, denn der sonderbare Begleiter lief jetzt sogar gegen den Wind mit. Mit einem entschlossenen Ruck machte Franz unter einer flackernden Gaslaterne Halt und bückte sich nach dem Blatte, das gleichfalls mit einem letzten Rascheln stillhielt. Es erwies sich, daß es nicht eigentlich ein dürres Laub war, sondern eine verschrumpfte Rose, offenbar aus einem Grabkranz. Sie stak an einem langen dünnen Drahte, dergleichen die Kranzwinder gebrauchen, und dieser Draht hatte sich in Franz Rainers langem Ueberzieher festgehakt. Franz nahm die Rose an sich und entfernte den Draht. Dabei entdeckte er, daß der Ueberzieher außerdem noch einen großen dreieckigen Riß aufwies, und diese ärgerliche Entdeckung, vereint mit dem erlösenden Gebimmel eines herannahenden Pferdebahnwagens, befreite ihn einstweilen von der Gespensterstimmung. Er machte noch einige Einkäufe zum Abendbrot und ging nach Hause.

Die Wirthin war ausgegangen, im Hause alles dunkel und öde; nur von oben erscholl vergnügtes, ungeduldiges Gebell des Pintschers. Diesmal schien dem Vierfüßler die Klausur doch furchtbar hart geworden zu sein. Mit einem wahren Freudentanze empfing er den heimgekehrten Herrn, während der Rabe, würdevoll auf einem Bücherschrank sitzend, mehrmals versicherte: „Jakob warr brrav, brraverr Jakob!“

Nachdem Franz das Feuer in dem eisernen Zimmerofen angeschürt, mit einem Fidibus die Lampe und den Spiritusdocht unter der Theemaschine angezündet hatte, schickte er sich an, den Riß im Ueherzieher zu flicken; es schien ihm ein ziemlich schwerer Fall, der seine ganze Schneiderkunst herausforderte.

Indessen wurde der Hund unruhig. Draußen hörte man die Treppe leise krachen, ein Rascheln und Tasten auf dem schmalen Gang, ein Hin- und Hergehen, dann pochte es leise an die Thür. „Herein!“ rief Franz aufblickend, und da stand in dem dunklen Thürrahmen jenes schlanke braunäugige und braunlockige Mädchen. Franz starrte sie an, als ob jetzt wirklich ein Gespenst gekommen wäre.

„Verzeihen Sie, Herr Nachbar,“ sagte die anmuthige Erscheinung mit überaus lieblicher Stimme, „möchten Sie mir vielleicht ein Zündholz leihen? Frau Schütz ist nicht zu Hause, und ich kam eben von der Reise.“ Dabei hatte sie Mühe, den Hund abzuwehren, der mit stürmischer Freude an ihr emporsprang.

„Ob Du herkommst, Pintsch!“ wetterte Franz. „Fürchten Sie sich nicht, er ist nicht bösartig.“

„O, mir thut Pintsch nichts,“ versicherte die Braune, „wir verstehen uns schon, nicht wahr, Pintsch?“

„Ja, aber sind Sie denn – ?“ stotterte Franz Rainer.

„Klara Meinhold ist mein Name,“ erwiderte sie lächelnd.

„Die älteste Mietherin im Hause!!“ murmelte Franz ganz geistesabwesend.

„Ich glaube, ja,“ antwortete das Fräulein etwas verwundert. „Ich wohne hier schon seit fünf Jahren. Seit ich in der Stadt bin.“

„Ja so,“ machte Franz. „Leider, Fräulein – Meinhold, sind auch mir die Zündhölzer ausgegangen. Wenn ich Ihnen vielleicht mit der Lampe behilflich sein darf?“

Sie dankte unbefangen und schritt mit ihm nach ihrem Zimmer. Pintsch folgte wedelnd.

In dem Zimmer war es kalt, das Fenster stand offen. Eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_847.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2023)