Seite:Die Gartenlaube (1893) 846.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

schon die Novelle, in der sie als Heldin leuchten mußte, im Geiste fertig – sie war der reine Zigeunerroman auf zwei Beinen. Sobald aber die Schöne den Mund weit öffnete und in einer unerträglich breiten ländlichen Mundart, die unwillkürlich an weichen Quarkkäse erinnerte, Betrachtungen über die Marktpreise und über das Kalben der Kühe zum Besten gab oder Scherze von der letzten Kirmeß her erzählte, so war der Eindruck bedeutend anders. Franz Rainer versuchte es gleichwohl, um der ewigen Wahrheit willen, die schöne Trina mit allen guten und bösen Seiten „dichterisch festzulegen“, aber er mußte es sich seufzend gestehen, daß für die Muse manche Dinge selbst dann nicht zu einem Wesen vereinbar sind, wenn dies Wesen fünfeinhalb Fuß hoch leibhaftig durch die Welt geht. Und so hatte ihm sein eifriges Studium nach drei Wochen noch weiter nichts eingebracht als einen kleinen sehr ruppigen und sehr possierlichen Hund.

Das kam so. Eines regnerischen Abends wandelte Franz Rainer an einer abgelegenen Stelle des Hafens einher, weil er einmal ganz genau den Lokalton eines „Herbstabends im Hafenviertel bei Regen und Nebel“ festhalten wollte. Unheimlich war die Gegend entschieden, es roch gar nicht schön, die spärlichen Laternen flackerten trübe, und dann und wann verrieth ein wüster Lärm aus einer Schifferkneipe, daß die holde Eintracht hier nicht wohne. Mit einem Male hörte Franz ein leises Winseln, er ging dem Laute nach und entdeckte einen kleinen Köter, der sich mit sklavischer Scheu vor ihm herumdrückte. Nachdem er das arme Vieh an sich gelockt hatte, bemerkte er, daß es von Wasser troff und einen schmierigen Strick mit einem Stein am Halse trug; offenbar hatte der bisherige Besitzer sich des Hundes durch grausamen Mord entledigen wollen. Der gute Franz nahm den Hund mit nach Haus, vermittelte als höhere Instanz ein friedliches Einvernehmen zwischen dem Raben und dem Köter und hatte nach einigen Tagen das Vergnügen, in dem wieder zu Kräften Gekommenen ein eben so treues wie häßliches Thier kennenzulernen. Da der bisherige Vorname des Köters dunkel war wie seine Vorgeschichte, so behielt er nur seinen Familiennamen – Pintsch. Jakob und Pintsch vertrugen sich alsbald ausgezeichnet. Mit großem Vergnügen beobachtete Franz an den langen Abenden, bequem vor dem Ofenfeuer sitzend und rauchend, ihre Spiele. Natürlich zeichnete er auch diese auf. Hier ergab sich nirgends ein Widerspruch; je wahrheitsgemäßer die Schilderung wurde, um so anmuthiger wurde sie auch. Als Franz sie der Redaktion einer großen Zeitung unterbreitete – für die „Chronik des Klausners“ war der Gegenstand doch zu gering! fand sie sogleich freundliche Annahme, und die ganze Leserwelt erfreute sich an der Plauderei „Jakob und Pintsch“. –

Von seiner Nachbarin, der ältesten Mietherin des Hauses, wußte Franz Rainer weiter nichts, als daß sie Klara Meinhold hieß und zuweilen Klavier spielte und dazu sang, meist einfache schöne Lieder, mit einer ziemlich kleinen Altstimme. Der Gesang störte ihn nicht, und der Name, den er auf der zierlichen Visitenkarte an der Thür des Fräuleins gelesen, hatte auch nichts Aufregendes für ihn. Eher schon vermochten einige junge Mädchen seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, welche ihm hin und wieder auf der schmalen Treppe begegneten, offenbar Schülerinnen des Fräuleins. Eine darunter schien besonders häufig Bestellungen an ihre Lehrerin zu haben, ein schlankes, voll erwachsenes Mädchen mit braunen Haarflechten, braunen großen Augen und hübschen Zügen. Wenn sie Franz Rainers höflichen Gruß mit freundlichem Nicken beantwortete, so ertappte sich der junge Einsiedler wohl auf dem stillen Wunsche, daß doch der Besuch eines so artigen Wesens lieber ihm als der alten Privatlehrerin gelten möchte, und schließlich träumte er sogar von dem Braunköpfchen, besondere am Nachmittag, wenn er sein Dichterschläfchen hielt.

Aus einem solchen angenehmen Traume schreckten ihn am Nachmittag des Allerseelenfestes die vereinten Bemühungen seiner Weckuhr und des Raben Jakob auf. Sobald Jakob die Weckuhr rasseln hörte, pflegte er flügelschlagend neben dem Kopfe seines Herrn Posto zu fassen und mit heiserer Stimme zu schreien: „Frranss muß aafstehn!“ Das war eine von seinen höchsten Künsten, mit der er besonders Pintsch dem Hunde gewaltig imponierte.

Ziemlich verdrossen und müde machte sich Franz Rainer auf den Weg, nachdem er seinen zwei Genossen die üblichen Abschiedsermahnungen gehalten hatte. Pintsch hatte sich schon daran gewöhnt, zu Hause bleiben zu müssen. In den ersten Tagen war es ihm nach Art der Hunde sehr schwer gefallen, wenn der Herr ohne ihn ausging; seitdem aber trug er es mit Gelassenheit, ja er schien sich ordentlich zu freuen, wenn er mit Jakob allein sein durfte, eine Thatsache, die in dem Aufsatze des Dichters umfassende Würdigung gefunden und eine Reihe zustimmender Beobachtungen von seiten anderer einsamer Thierfreunde hervorgerufen hatte. Die Zeitung hatte sie in einem Nachtrag unter der Rubrik „Beiträge zur Kenntniß der Thierseele“ zusammengefaßt.

Den heutigen Nachmittag hatte Franz zu einer realistischen Anschauungsreise über den Friedhof bestimmt. Es war ein richtiges Allerseelen-Wetter, der Himmel war grau und schwerlastend, die Luft weich und feucht, und als Franz die große Stadt hinter sich hatte, rauschte ein warmer stoßweise einsetzender Südwest in dem dürren Laube der Promenaden. Auf der breiten Landstraße, die zum Friedhof führte, wälzte sich langsam eine dichtgedrängte Menschenmasse dahin, weniger gehend als geschoben und schiebend. Auf beiden Seiten längs der Straße zogen sich Reihen von trüb erleuchteten Verkaufsständen hin. Da gab es Kränze zu kaufen, solche aus wirklichen Blumen und solche aus Blech, letztere meist dicken gelben Immortellenkränzen nachgebildet, so daß sie aussahen wie die Rettungsringe auf Flußdampfern; ferner Kerzenbündel, Lampions und Stearintöpfchen zur Beleuchtung der Gräber, Rosenkränze, dann auch Pfefferkuchen und Printengebäck für die mitgenommenen Kinder. Das eilige Rufen der Verkäufer, die bedachtsamen Fragen ihrer Kunden, die Gespräche der dahinwallenden Gruppen und vom Rücken her der ferne Lärm der Großstadt mischten sich zu einem dumpfen Gebrause. Und vor ihnen in der dicken nebligen Luft lag es wie eine breite niedrige Wolke in warmer rauchgelber Farbe. Das war der aufsteigende Dunst der Tausende von Kerzen und Lämpchen, die schon auf dem Friedhofe brannten; er hing wie ein Herbstschwaden um das dürre Geäst der Trauerweiden.

Auf dem Wege sah und hörte Franz Rainer manches, was wohl geeignet war, ihn in seiner nüchternen Weltanschauung zu bestärken. Auch der Anblick der langen Reihe von Wirthshäusern, die sich gegenüber den Friedhofsthoren hinzogen und gedrängt voll waren von zechenden Leidtragenden, schien einen ausgezeichneten Hintergrund für einen „realistischen Roman“ abzugeben, nicht minder innerhalb der Friedhofsmauern selbst die pomphafte Beleuchtung einzelner Familiengräber von vornehmen Leuten und die davor sich drängende Menge mit ihrem Gaffen und Kritisieren: „Voriges Jahr hatten sie in der Mitte ein Kreuz und einen Stern in Gold und Blau, das machte sich viel imposanter!“

Es gab aber noch anderes zu sehen und zu hören. Ein großes Kriegerdenkmal war ganz mit bunten Lämpchen umstellt und mit Kränzen umgeben. Graubärtige Männer, gebeugte Matronen umstanden es, mit ihnen Jünglinge und Jungfrauen, die in der Wiege gelegen, als ihre Väter draußen Im Felde standen, und dann auch schon Kinder des jüngeren Geschlechtes. Sie zogen langsam und leise vor den Tafeln vorbei, die in goldenen Buchstaben die Namen der Gefallenen trugen, und lasen die Namen. Eine junge schöne Frau hob ihren Knaben auf den Arm und ließ ihn zwei Worte buchstabieren: „Das war Dein Großvater!“ sagte sie, und der Knabe rief: „Nach dem bin ich genannt!“. Und die Mutter küßte ihn und sagte; „Werde wie er!“ Dann ertönte in gedämpften Klängen Choralmusik um das Kriegergrab her, ein alter Herr in langem schwarzen Gewand trat vor und hielt eine kurze Ansprache, wie er einst zu den Kriegern selbst als Feldgeistlicher gesprochen. Da hörte man

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_846.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2023)