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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Häuser verziert, allerorts arbeitete man noch eifrig an der Gasbeleuchtung. Wir gelangten durch das mehr und mehr anwachsende Gedränge glücklich zu dem befreundeten Hause auf der Zeil, wo wir den Einzug bequem überblicken konnten. Die Straßen, die Plätze waren dichtgedrängt voll Menschen, es war wohl ganz Frankfurt auf den Beinen, und aus der Nachbarschaft mochten mehr als 100000 Schaulustige hereingeströmt sein. Alles war in Erwartung, da – kurz nach acht Uhr, als sich schon volle Dunkelheit vom Himmel heruntergesenkt hatte, erklangen alle Glocken der Stadt mit weithintönendem Schall. Es war ein feierlicher Willkommgruß von mächtigem gewaltigen Eindruck. Jubelrufe kamen aus der Ferne, sie wuchsen an, sie kamen näher, sie brausten rings um uns empor, und nun fuhren etwa zehn Wagen an uns vorbei die große breite Straße hinauf. Meist schrien die Leute dem ersten Wagen zu, aber der Kaiser saß im zweiten mit einem Herrn in Civilanzug; in den andern befanden sich meist Herren in glänzenden Uniformen. Endloses Hochrufen begleitete die Wagen bis zu ihrem Ziele, das Volk schrie aus voller Brust und aus vollem Herzen; der Kaiser war eingekehrt.

Am 19. Oktober, einem Dienstag, fuhr ich dann gegen fünf Uhr abends in der vorgeschriebenen Kleidung zum Kaiseressen nach der Post. Die Straße war wieder voll Menschen, so daß die Schutzleute nur mit Mühe den Raum in der Mitte für die Wagen frei halten konnten. Schon an der Liebfrauenstraße stockte die lange Reihe, und nur langsam ging es vorwärts zur Anfahrt. Dort aber war alles gleichfalls mit Blumen geschmückt und Treppen und Vorraum mit Teppichen belegt; man hatte das alte Gebäude so jung zu machen versucht, als es eben möglich war. Kaiserliche Lakaien nahmen uns die Ueberröcke ab, und ich kam mir mit einem Male sehr vornehm vor. Im ersten Zimmer war ein Hofbeamter in Uniform und an Orden reich, bei dem ich mich namentlich anmeldete. „Wollen Sie hier in diesem Zimmer bleiben! Sie werden hier speisen, man bringt die Tafeln herein.“

„Gut! Besten Dank!“

Ich traf viele Bekannte aus der Stadt, Juristen, Aerzte, Kaufleute und mancherlei Rentiers; es mögen etwa 30 bis 40 Personen gewesen sein, und dann die Spitzen der Verwaltungsbeamten, der Gerichte und des Militärs.

Zuerst begrüßte mich mein alter treuer Freund, der Polizeipräsident von Madai, der früher in gleicher Stellung sich hier in Frankfurt in den ersten schwierigen Zeiten der verlorenen Selbständigkeit die allgemeinste Anerkennung zu gewinnen verstanden hatte und der mir in jahrelangem amtlichen Verkehr eine nie gestörte Zuneigung bewiesen hatte. Er empfing mich hocherfreut und herzlich. Ferner begegnete ich dem Leibarzte des Kaisers, dem Dr. von Lauer, den ich vor einigen Jahren in Ems kennengelernt hatte. Es war dies ein reichbegabter und vielseitig gebildeter Mann; ich bin nie einem zweiten begegnet, der eine solche Masse von Anekdoten und Citaten aus allen Sprachen, Büchern, Völkern und Ländern in seinem Kopfe vorräthig hatte; man hörte von ihm Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, alte und neue Litteratur, und dies alles dicht beieinander und durcheinander. Hier hatte ich nun gleich Gelegenheit, durch eine Schwäche meiner Hirnfunktion in eine unangenehme Verlegenheit zu gerathen und zugleich zu erproben, daß man durch Unverfrorenheit auch da sich heraushelfen kann. Ich litt von je an einem etwas unzuverlässigen Gedächtniß, namentlich war ich jetzt in Bezug auf die Namen meiner Bekannten oft ganz rathlos. Als ich nun mit dem kaiserlichen Leibarzte sprach, brachte dieser plötzlich ein Citat aus Pindar an. Neben uns stand aber in demselben Augenblick der verdienstvolle Direktor unseres Gymnasiums, Professor Tycho Mommsen, Herausgeber und Uebersetzer des Pindar. Als dieser nun seinen griechischen Pflegling von dem Herrn in glänzender, mit reichstem Ordenschmucke überdeckter Uniform angeführt hörte, trat er gleich zu mir und bat mich, ihn vorzustellen. Ich that es bereitwillig also: „Excellenz der Herr Generalstabsarzt und Leibarzt Sr. Majestät, Dr. von Lauer! Und unser verdienstvoller Direktor des Gymnasiums, Herr Professor Dr. – –“ Ja! Wie heißt er? Totale Lücke! – Ich fasse mich kurz und sage schließlich murmelnd: „Herr Professor Dr. Br–br–br–“ und entferne mich so schnell als möglich. Mommsen und Lauer waren gleich tief in Pindarsche Siegeshymnen versunken; ich aber eilte zu einem nahestehenden Bekannten und ließ mir den Namen des Direktors ins Gedächtniß zurückrufen. Dann kehrte ich rasch zu den beiden „Griechen“ zurück und frug Lauer: „Ich habe Ihnen wohl den Namen des Herrn Direktors nicht deutlich genug ausgesprochen?“ Lauer erwiderte: „Ja, ich habe ihn gar nicht verstanden,“ worauf ich das Fehlende mit den Worten ergänzte. „Es ist der berühmte Bruder des berühmteren Bruders, der Gymnasialdirektor Mommsen.“ So war der Fehler leidlich verbessert, und ich überließ die beiden der Antike. Später, als wir bei Tisch zusammensaßen, gab ich ein reuevolles Bekenntniß meiner Schwäche und erhielt bereitwillig Absolution; es wurden ähnliche Verstöße von einer und der anderen Seite vorgebracht. Das alles gehört nun eigentlich nicht zu meiner Geschichte, aber wenn man in der Vergangenheit spazieren geht, so liebt man auch mitunter kleine Nebenwege, auf den Hauptweg kommen wir doch wieder.

In dem zweiten Saale waren die höheren Staats- und Stadtbeamten und die Frankfurter Finanzgrößen versammelt. Nachdem unsere lebhafte, doch gemäßigt laute Unterhaltung einige Zeit gedauert hatte, erschien der königliche Hofmarschall in unserem Raum, stieß dreimal seinen mit silbernem Knopfe verzierten Stab auf den Boden und verkündigte: „Seine Majestät will die anwesenden Gäste begrüßen.“ Kaiser Wilhelm trat ein und machte in Begleitung unseres Oberbürgermeisters Dr. von Mumm bei den im Kreise stehenden Herren die Runde. Er richtete an die meisten ein paar freundliche Worte; so sagte er zu mit: „Es ist freilich besser, wenn die Aerzte im allgemeinen nicht allzu viel zu thun haben.“ Ich erwiderte, daß die mir anvertrauten Kranken von keinen epidemischen Einflüssen abhingen und die Zahl derselben an der Anstalt meist ungefähr die gleiche bliebe. Damit war die Ceremonie abgethan. Soviel war mir klar, daß es doch eine schwere Aufgabe sein müsse, so alle paar Tage einer Anzahl von Leuten irgend etwas sagen zu müssen, zu denen man eigentlich wenig oder gar keine direkte Beziehung hat. Ich dachte an den reichen Mann, der wohl gern Almosen giebt, dem aber zuletzt doch das Kleingeld ausgegangen ist und der deshalb leicht in Verlegenheit kommt.

Als diese Begrüßung zu Ende war, öffnete sich eine Seitenthür und Lakaien trugen die kleinen gedeckten Tische herein, an denen je etwa zehn Personen Platz fanden. Das Essen war gut, ich habe nie ein so weiches Filet gegessen, was den zahnarmen Doktor und andere wohl auch nur erfreuen konnte. Auch die Weine waren vorzüglich, Madeira, feiner Bordeaux, Rauenthaler und Schaumwein. Es wurde rasch aufgetragen und die ganze Prozedur war in dreiviertel Stunden zu Ende. Die Unterhaltung war recht belebt und unbehindert. Mit uns am Tische waren unter anderen Dr. von Lauer, Mommsen und Herr von Wilmowsky, der dem Kaiser nahestehende Chef des Civilkabinetts, der in liebenswürdigster Weise gewissermaßen die Honneurs des kleinen Kreises machte und mit dem sich ein leicht fließendes Gespräch unterhalten ließ ... der Kaffee wurde gebracht, die zersplitterte Unterhaltung ging weiter und die Tische verschwanden ebenso lautlos, wie sie gekommen waren. Geraucht wurde nicht; ich hätte gern eine Imperialis versucht, wenn es deren gegeben hätte; doch war es recht gut, denn sonst hätte sich in den engen, ziemllch niedrigen Räumen des alten Baues wohl ein gar zu mörderischer Qualm entwickelt.

Mitten in die sich wieder bildenden Gruppen kam nun plötzlich Madai zu mir und theilte mir mit, er habe Seiner Majestät soeben gesagt, daß sich der Verfasser des „Struwwelpeter“ hier befinde; der Kaiser wolle mich noch einmal sprechen. Im höchsten Grade überrascht folgte ich ihm sogleich. An der Thür des zweiten Saales kam der Kaiser mir freundlich entgegen, reichte mir die Hand und sprach zu mir, er habe meine Bücher gelesen und sich recht sehr darüber gefreut. Ich verbeugte mich geziemend und erwiderte: „Majestät, ich hatte mich mit den kleinen Schriften eigentlich nur an die Herzen der Kleinen gewendet; ich erfahre nun, daß ich damit auch die Herzen der Großen gewonnen habe. Kann ich einen schöneren Erfolg wünschen?“ Er frug darauf: „Ruht denn jetzt Ihre Feder?“ Darauf entgegnete ich: „Ich bin Direktor der Irrenanstalt; mein Beruf ist ein so ernster, daß die Augenblicke freier Stimmung zu selten sind, um solche Nebendinge zu betreiben; auch bin ich zu alt. Uebrigens haben wir die hundertste Auflage herausgegeben, und mehr kann ich doch nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_842.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2023)