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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Arbeit blot halv so fix wir! Ja, dat geiht jo nich, hei künn sik dorbi die finen Fingerkens swart maken!“

Ein lauter Schlag ertönte, der offenbar davon herrührte, daß Jänicke wuthentbrannt mit der Faust auf den Ladentisch schlug. „Denx Dunner, Unkel, nu hörst äwer up! Sünst, wahrhaftigen Gott, sünst pack’ ik min Siebensachen und verlat mit min Leitnant Din Hus. Kein Minsch sall mi hinnern, för min Leitnant to arbeiden, wenn’t nödig deit, un den letzten Happen mit em to deelen!“

„Meinswegen gah, wenn Du abslut so ’n Esel bist, dat Du Di schinnst för einen, de Di schimpt un schuriegelt hett, Du weitst doch, bi'n Kommiß!“

„Bi’n Kommiß? Wat weitst Du von Kommiß? Bi’n Kommiß gehürt sik dat so, un dat is de Subordnatschon. Freilich, Du hest jo den bunten Rock nie nich dragen. Un wenn mi uns’ Herr Leitnant ok männigmal anschnauzt hett, dat mir Hürn un Sehn vergahn is, god was hei dorum doch un för min Leitnant gah ik dörch’t Füer.“

„Denn gah! Awwer in min Hus bin ik Herr, un ik bruk kein afgedankten Leitnant in min Geschäft. Un eh' ik so ’n Lüderjahn und Dagdeev noch länger föden[1] do -“

Mehr hörte Erwin nicht. „Lüderjahn! Tagedieb!“ Der rohe Schimpf traf ihn wie ein Peitschenhieb und trieb ihn in wilde Flucht. Keuchend eilte er auf der Straße vorwärts, unablässig gellten ihm die höhnischen Worte des Krämers in die Ohren. Endlich mäßigte er schweißtriefend seine Schritte. Unwillkürlich sah er sich ängstlich um. Gott sei Dank, es folgte ihm niemand, er war ihnen glücklich entkommen, dem einen mit seiner treuen, opferbereiten Liebe, die er nicht länger mißbrauchen durfte, dem andern mit seinem brutalen Haß. Doch wohin nun? Er wußte es nicht. Aber nur immer vorwärts! Nur fort von denen, die ihn kannten und die ihn verachten mußten!

Erschöpft, nach Athem ringend, hielt er endlich in seinem ungestümen Laufe an. Der „East River“ lag vor ihm, das breite Gewässer, das New York von der Schwesterstadt Brooklyn trennt. Beim Anblick des Wassers durchzuckte es ihn jäh wie eine Erleuchtung. Wer dort unten ruhte, der konnte vergessen, der hatte Ruhe für immer. Eine bessere Zuflucht gab es nicht. Dort unten war er für alle Zeit von Elend und Schmach erlöst. Eine unüberwindliche Müdigkeit erfüllte ihn, ein Ekel vor den Erniedrigungen neuer Kämpfe und Entbehrungen. Scheu blickte er um sich. Lebhaftes Treiben herrschte in der Straße am Wasser. Die Pferdebahn, Geschäfts- und Lastwagen aller Art rollten vorüber, unaufhörlich drängte die Fluth der Fußgänger an ihm vorbei. Unmöglich, ungehindert zu thun, was er thun mußte!

Da fiel sein Auge auf ein niedriges, braun angestrichenes Holzgebäude, das sich, ungefähr zwanzig Schritte von ihm entfernt, dicht am Ufer erhob. Eine dichte Menschenmenge, Fuhrwerke aller Art strebten unablässig den Thoren des Hauses zu. Es war offenbar eine Anlegestelle der großen Dampf-Fähren, die den Verkehr zwischen New York und Brooklyn vermitteln. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, eilte er dem Landungsplatze zu. In seiner Tasche fanden sich noch ein paar Kupfermünzen, die ihm Zutritt in die Halle verschafften. Hastig eilte er auf das Deck des Dampfbootes, das sich eben zur Abfahrt bereit machte.

Und nun stand er am Bugspriet des Fahrzeuges, das pustend und keuchend der Mitte des Flusses zusteuerte. Seinen Hut hatte er in die Hand genommen, um die erhitzte Stirn in dem frischen Luftzug, der vom Meer her wehte, zu kühlen. Vor seinem fieberisch erregten Geiste zogen die Erlebnisse der letzten Monate noch einmal vorüber. Wie feig und thöricht, seine Zukunft auf die Laune eines Geschöpfes wie Miß Sumner aufbauen zu wollen! Wie plump, wie schmachvoll, sich in den Netzen dieser Kokette zu verstricken! Und das unter den Augen Klaras, der einzigen, die ihn je aufrichtig, um seiner selbst willen geliebt hatte! Ein heißes Weh durchzuckte ihn. War er nicht an seinem Glück vorübergegangen, hatte er es nicht durch eigene Schuld für immer verscherzt? Warum hatte er nicht mit Ausdauer und Geduld, mit der Kraft reuiger Liebe gestrebt, die Zürnende zu versöhnen? Bewies nicht ihr Verhalten gegen ihn deutlich, daß ihr Herz noch immer für ihn schlug? Warum war er dem Beispiel Schuckmanns nicht gefolgt, der das Mädchen seiner Neigung heimgeführt hatte, ohne einer anderen Stimme als der seines Herzens Gehör zu geben, und der nun ein glücklicher Mann war? Wie anders stünde es jetzt um ihn! Er aber, ein kurzsichtiger Thor, noch immer im Bann der alten Vorurtheile, hatte einem äffenden Trugbild von Glück und Ehre nachgejagt und war in sein Verderben gerannt. Nun kam die Reue, die nagende brennende Reue und – das Ende.

Verstört blickte er sich um und fuhr zusammen. Das Boot war schon weit über die Mitte hinaus und näherte sich dem jenseitigen Ufer. Es war die höchste Zeit. Noch ein Blick nach oben und zu den hinter ihm Stehenden, ein kräftiger Schwung über die Brüstung – hinab in die Fluth! Die Wellen schlugen über ihm zusammen, die Besinnung verließ ihn . . .


Erwin schlug die Augen auf, um sie sogleich wieder voll Schreck zu schließen. Neben einem bärtigen bebrillten Gesicht, das ihm fremd war, schaute voll Spannung ein Paar Augen auf ihn nieder, deren Blick er nicht ertragen konnte, ein Antlitz, das er mehr scheute als irgend ein anderes in der Welt. Welch ein garstiger Traum! – Aber träumte er denn wirklich? Wo war er denn? Er fühlte eine seltsame Schwere in seinen Gliedern. War er krank gewesen? Und was war mit ihm geschehen?

Das alles zuckte blitzschnell durch sein Gehirn. Und jetzt raffte er sich zu einem Entschluß auf. Er öffnete von neuem die Augen und richtete sich mühsam empor. Erstaunt schaute er von einem Gegenstand, von einem Möbelstück zum anderen. Er befand sich in einem hübsch eingerichteten Zimmer, das er nie in seinem Leben gesehen hatte. Die beiden Männer aber, die er vorher erblickt oder zu erblicken gemeint hatte, waren verschwunden. Verwirrt faßte er sich an die Stirn und rathlos, bestürzt bemühte er sich, einenn Zusammenhang zwischen seiner früheren Lage und seinem jetzigen Zustand zu finden. Doch ehe ihm das gelang, öffnete sich eine Thür in der Seitenwand, und als er sich hastig umwandte, da durchloderte ihn ein ungestümes Entzücken.

„Klara!“ kam es jubelnd von seinen Lippen, und in übermächtigem Verlangen streckte er die Arme nach der Eintretenden aus.

Und – o Wunder – aller Groll war aus ihrem Gesicht verschwunden, aus dem die lauterste Freude, der sieghafte Strahl der Liebe glänzte. Nun stand sie neben ihm und drückte ihn mit sanfter Bewegung in die Kissen nieder. „Ruhe! Bitte, bitte! Der Doktor will es!“ flüsterte sie mit so innigem Tone, daß er sich gehorsam fügte und die Augen schloß. Und so lag er ruhig, nur ab und zu durch du halbgeöffneten Lider spähend, um sich zu vergewissern, daß das alles Wirklichkeit sei und nicht etwa ein neckendes Traumbild. Eine unbeschreiblich wohlige, selige Empfindung überkam ihn, ein beglückendes Gefühl der Ruhe und Sicherheit. Dann gewann die Müdigkeit die Oberhand und sanft entschlummerte er.

Als er gestärkt und frisch wieder erwachte, befand er sich abermals allein. Eifrig damit beschäftigt, sich die Ereignisse der letzten Vergangenheit in die Erinnerung zurückzurufen und Klarheit über seine Lage zu gewinnen, kleidete er sich langsam an. Kaum war er damit zu Ende, als es an der Thür klopfte. Erregt blickte er auf. „Herein!“

Wagner war es, der über die Schwelle trat und dessen Blick Erwin suchte, jedoch nicht zürnend und drohend wie ehedem, sondern ruhig, mit ernster Freundlichkeit. „Herr von Buschenhagen,“ redete er den gänzlich Fassungslosen, in peinlichster Verwirrung Dastehenden an, indem er sich ihm lebhaft näherte, „ich bitte Sie, mir die Hand zu geben zum Zeichen daß die Vergangenheit vergeben und vergessen sein soll.“

Erwin faßte wortlos die ihm dargebotene Hand, bemüht, der auf ihn einstürmenden Gefühle Herr zu werden. „Gerne – o wie gerne!“ stammelte er. „Ich allein muß ja um Verzeihung bitten –“

„Nein, Herr von Buschenhagen, auch ich habe ein Unrecht gutzumachen. Ich bin damals bei Herrn Hopkins grausam gegen Sie gewesen, ich mißbrauchte mein zufalliges Uebergewicht und das – das war brutal von mir. Sie waren in Noth, da durfte ich nicht den Feind in Ihnen erblicken, sondern nur den Hilfsbedürftigen.“ Er athmete tief auf und fuhr dann, ohne die abwehrende Gebärde Erwins zu beachten, eifrig fort: „Als es gelungen war, von dem Fährboot aus, das ich heute morgen zufällig bei der Rückkehr von einem Geschäftsgang benutzte und das dem Ihrigen entgegenkam, Sie aufzufischen, als Sie nun bleich, regungslos, anscheinend ohne Leben vor mir auf dem Verdeck lagen, da schrie etwas in mir auf und rief mir zu: ‚Mörder! Mörder! Du bist die Ursache seines Todes!‘ Verzweifelt mühte ich mich mit einem Arzte, der glücklicherweise zur Stelle war, Sie

  1. füttern.
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