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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

einer Mahlzeit in den verlockendsten Farben, und eine wahre Wuth, zu essen, kam über ihn.

Da kreuzte ein Wagen, über und über mit frischen, großen Broten beladen, seinen Weg. Die Augen gierig auf das langsam vorwärts rollende Gefährt geheftet, folgte Erwin, und so oft der Fuhrmann vor einem Hause anhielt, um seine Kunden zu befriedigen, blieb auch er stehen. Mit dem Rest seines Ehrgefühls kämpfte er einen verzweifelten Kampf; ein grimmiges Lächeln irrte um seine bleichen Lippen. Befand er sich nicht im Kriege mit der Gesellschaft, die ihn achtlos den Hungertod sterben ließ, und war es im Kriege nicht erlaubst zu – zu „requirieren“?

Wieder verschwand der Führer des Wagens, mit Broten bepackt, diesmal im Laden eines Spezereihändlers, und Erwin, von wahnsinnigem Verlangen getrieben, schlich näher und näher an das Gefährt heran. Jetzt stand er dicht davor – nur schnell noch einen Blick ringsum! Es war noch frühe Morgenstunde, die Straße menschenleer. Aber dort – er zuckte zusammen und machte hastig ein paar Schritte vorwärts – dort vorn stand breitspurig, mit einem großen Schlapphut auf dem Kopf, einer kurzen dampfenden Pfeife im Munde, ein junger Bursche mit dicken rothen Backen in dem gutmüthigen Gesicht. „Jänicke – wahrhaftig er ist’s!“ murmelte Erwin vor sich hin. Aber im nächsten Augenblick blieb er wieder stehen und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es war ja unmöglich! Ein neuer hastiger Blick. Nein, es war doch so: mitten auf der Straße stand in süßem Nichtsthun sein früherer Bursche.

Ungestüm eilte er jetzt vorwärts, an dem Fuhrmann vorbei, der eben aus dem Laden trat. Und nun stand er ihm gegenüber seinem guten treuen Jänicke, der die Augen aufriß und dessen weit geöffnetem Mund die qualmende Pfeife entfiel.

„Jänicke,“ rief Erwin, „ja bist Du’s – sind Sie’s denn wirklich?“

Ein Ruck fuhr dem Burschen durch den Körper straff richtete er sich auf und in strammer Haltung wie einst im bunten Rocke stieß er stotternd hervor: „Herr Lieutenant, Herr Lieutenant . . .“ und immer wieder nichts weiter als: „Herr Lieutenant!“ Erst als Erwin ihm die Rechte entgegenstreckte, wich die Erstarrung, die sich des Ueberraschten bemächtigt hatte, und mit festem Griff erfaßte er die Hand seines ehemaligen Herrn und schüttelte sie, daß die Gelenke krachten. Dabei traten dicke Tropfen in seine treuherzigen blauen Augen.

Als der erste ungestüme Ausbruch der beiderseitigen Freude vorüber war, fragte Erwin: „Aber sagen Sie mal, Jänicke, wie kommen denn Sie nach Amerika?“

Jänicke grinste vergnügt. „Sehr einfach, Herr Lieutenant,“ antwortete er. „Als ich meine Zeit bei’n Kommiß ’rum hatte, kriegte ich einen Brief von meinem Onkel, meines Vaters Bruder. Der schrieb so viel Schönes über Amerika und daß hier einer, der keine Arbeit nicht scheut, viel besser dran wäre wie bei uns zu Hause in Pommern. Und das Reisegeld schickte er auch gleich mit, und daß er Kaufmann sei und daß es ihm gut gehe, und wenn ich wollte, könnte ich das Geschäft bei ihm lernen. Und da bin ich denn herüber und drei Monate bin ich nu all hier, in dem Laden da! – Aber Sie, Herr Lieutenant?“

Er ließ seine Blicke prüfend über das Aeußere seines ehemaligen Vorgesetzten schweifen, der verlegen die Augen senkte, und jetzt erst gewahrte er, in welch trauriger Verfassung sich dieser befand.

„Ja, wie sehen Sie denn aus, Herr Lieutenant!“ entfuhr es ihm unwillkürlich. „Geht es Ihnen denn nicht gut? Sie sehen ja aus, als ob – als wenn –“

„Mir geht es schlecht, Jänicke,“ gestand Erwin leise. „Meine Stellung habe ich verloren und seit drei Tagen bin ich – bin ich obdachlos und gegessen habe ich –“

Weiter kam er nicht. „Herrgott!“ rief Jänicke, packte ohne weitere Worte den vor ihm Stehenden bei den Schultern und zog ihn mit sich in das Hinterzimmer des Spezereiladens, wo die Familie seines Onkels eben beim Frühstück saß. Mit ein paar kurzen Worten hatte er den erstaunt Aufblickenden den Sachverhalt erklärt; dann drückte er Erwin auf einen Stuhl nieder und trug ihm selbst auf, was gerade zur Hand war: Brot, Butter, Eier, Schinken, Wurst und Käse. Erwin ließ sich nicht erst nöthigen und griff wacker zu, und je tiefere Breschen er in die vor ihm aufgestapelten Eßvorräthe legte, zu desto freundlicherem Grinsen verzog sich Jänickes breiter Mund, desto länger wurden die Gesichter des Krämers und seiner Frau, die ihren unerwarteten Gast scheel von der Seite ansahen. (Schluß folgt.) 


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John Brinckman.

Seit mehr als zwanzig Jahren ist ein Dichter verstorben, dessen Werke jetzt anfangen, allgemeinere Beachtung zu finden, während er bei Lebzeiten neben einem erfolgreicheren Mitstrebenden sehr in den Hintergrund trat: es ist das John Brinckman, ein plattdeutscher Erzähler und Poet, der aber auch eine hochdeutsche Dichtung verfaßt hat. John Brinckman wurde zu Rostock, wo sein Vater als Kaufmann und Reeder ansässig war, am 3. Juli 1817 geboren, besuchte dort das Gymnasium und studierte dann die Rechte, ein Studium, das er später mit demjenigen der neueren Sprachen und Litteraturen vertauschte. Zwei Jahre lang war er an einer Privatschule als Lehrer thätig; dann begab er sich auf Reisen, besuchte England und Nordamerika und trat in New-York bei einem älteren Bruder ins Geschäft. Später wurde er Sekretär des brasilianischen Generalkonsuls; doch wiederholte Anfälle des klimatischen Gallenfiebers zwangen ihn, nach Deutschland zurückzukehren. Hier war er mehrere Jahre als Hauslehrer thätig; im Jahre 1846 übernahm er eine Privatschule und Pensionsanstalt zu Goldberg; 1849 wurde er an die Güstrower Realschule als Lehrer der neueren Sprache berufen und verblieb in dieser Stellung, die ihm freilich nur ein geringes Gehalt abwarf, bis zu seinem Tode am 20. September 1870. Daß er sich in einer so gedrückten Lebenslage eine so unverwüstliche Heiterkeit bewahrt hat, wie sie sich in seinen plattdeutschen Erzählungen ausspricht, ist in der That erstaunlich.

John Brinckman hätte schon bei Lebzeiten sehr gut neben Fritz Reuter eine anerkannte Stelle finden können; aber es schien, als ob zwei schriftstellerische Größen gleicher Art, die beide der plattdeutschen Sprache sich bedienten, in dem kleinen Mecklenburg nicht nebeneinander Platz hätten. Fritz Reuter gewann nach heißem Ringen die Palme des Glückes und John Brinckman blieb neben ihm im Schatten. Und doch ergänzten sich beide vollkommen: Fritz Reuter schildert das mecklenburger Landleben, seine Helden sind Gutsbesitzer und Wirthschaftsinspektoren; Brinckman aber ist ein Marinemaler, seine Helden sind Schiffskapitäne, und obgleich sie fest im heimathlichen Boden wurzeln, so haben sie doch einen weiten Weltblick und reiche Abenteuer in der Ferne bestanden.

Dies gilt besonders von dem Helden in John Brinckmans Hauptwerk „Kasper Ohm un ik“, welches älter ist als Fritz Reuters „Ut mine Stromtid“ und bis jetzt in fünf Auflagen erschien (Rostock, Werthers Verlag). Der berühmte plattdeutsche Dichter Klaus Groth sagt von diesem Roman, er sei von einer Vollendung, daß man prophezeien dürfe, man werde ihn lesen, so lange man plattdeutsch lese, und die Zahl seiner Freunde und Verehrer werde wachsen mit den Jahren. Der Roman spielt in dem alten Rostock, wie es vor einigen Geschlechtern war, als die Schiffskapitäne auf eigenen Schiffen die Ostsee befuhren, Thran von Schweden holten und Aepfel nach Petersburg brachten, ein Handelsartikel, welchem der Held der Erzählung, Kasper Ohm, vorzugsweise seine Wohlhabenheit verdankt. Er ist ein Rostocker Kind von echtem Schrot und Korn, tüchtig in jeder Hinsicht, aber von einem Selbstgefühl beseelt, welches unbedingte Anerkennung verlangt, großsprecherisch, aber ohne in Größenwahn zu verfallen.

Von den kleineren Erzählungen, welche den zweiten Band von Brinckmans ausgewählten plattdeutschen Schriften bilden, ist „Peter Lurenz bi Abukir“ eine ergötzliche Münchhauseniade. „Voß und Swinegel“, die erste und älteste plattdeutsche Erzählung Brinckmans, die beim Erscheinen einiges Aufsehen erregte, ist eine mit behaglicher Breite erzählte Fabel; auch die anderen meistens harmlosen Geschichten tragen das Gepräge eines kerngesunden, von keiner Empfindsamkeit angekränkelten Humors.

Im Jahre 1859 erschien eine Gedichtsammlung „Vagel Griep“, die nach dem Wappen Rostocks benannt war. Diese Sammlung enthält frische Landschaftsbilder, ansprechende Genreskizzen besonders aus der Erntezeit und dem sonstigen landwirthschaftlichen Leben, herzinnige, tiefempfundene Familienbilder. Einzelne Poesien aber dürfen auf ganz besonderen poetischen Werth Anspruch machen, wie das elegische Gedicht „Die Kronen“ und das Gedicht eines durch das Hinscheiden des Sohnes tiefbetrübten Vaters „He sturw“, in welchem der Tod selbst in ergreifender Weise geschildert wird. Ein sehr anmuthiges Gemälde der Winterlandschaft findet sich in denl Gedicht „Nucklas“, welches dann in eine Darstellung des heiligen Christabends übergeht. Auch über diese Gedichtsammlung hat Klaus Groth ein sehr anerkennendes Urtheil gefällt; sie enthalte, meint er, mehr lyrische Schätze als die ganze plattdeutsche Litteratur.

Die einzige hochdeutsche Dichtung Brinckmans, „Die Tochter Shakespeares“, erschien lange Zeit nach dem Tode des Dichters im Jahre 1881; es ist eine schöne, bilder- und gedankenreiche Dichtung, der man das Vorbild Shakespeares und seines über den Räthseln des Menschenlebens brütenden Geistes wohl anmerkt, bedeutsam genug, um dem Namen Brinckmans auch in der hochdeutschen Litteratnr Gewicht zu verleihen. Rudolf von Gottschall.     


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_818.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2023)