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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


that Ihnen außerordentlich wohl. Ueber uns der klare Himmel mit unzähligen funkelnden Sternen, unter uns leuchtend in Phosphorglanz die See –“

„Gewiß, gewiß, Mister Hagen – es war eine unvergleichliche Nacht.“ Sie lächelte kokett, ohne sich durch Klaras Anwesenheit irgelld welchen Zwang auferlegen zu lassen, und fuhr dann neugierig fort: „Aber was thun Sie denn hier, Mister Hagen? Vermuthlich auch Schüler der Beelitz-Schule?“

Erwin erröthete leicht. „Nicht Schüler, sondern Lehrer.“

„Lehrer!“ Sie lachte laut auf und schlug die Hände zusammen. „Ach das – wie drollig das ist! Da werde ich am Ende gar das Vergnügen haben –?“

„Wenn Sie Schülerin des Deutschen sind –“

„Allerdings – um in der Uebung zu bleiben und nicht alles, was ich drüben mühsam gelernt habe, hier wieder zu vergessen.“

„Dann wird auf meiner Seite das Vergnügen sein, Sie unterrichten zu dürfen. Ich bemerke Ihnen aber im voraus, Miß Carry, daß ich ein sehr sehr strenger Lehrer bin.“

„O, Mister Hagen, ich zittere schon jetzt vor Ehrfurcht und Angst und –“ Ihr Blick streifte zufällig das Gesicht der Buchhalterin, aus deren Augen ihr so viel Mißbilligung und Verachtung entgegensprühte, daß sie unwillkürlich mitten im Satz abbrach, sich ärgerlich auf die Lippen biß und mit geringschätziger Miene die Achseln zuckte. Erwin war der Richtung ihres Blickes gefolgt; mit einem Gefühl der Befriedigung gewahrte er, daß jetzt eine glühende Röthe in Klaras Gesicht aufstieg, während sie verwirrt den Kopf senkte. Die schöne Amerikanerin aber verließ das Bureau, nachdem sie Erwin mit einem vertraulichen: „Auf Wiedersehen, Mister Hagen“ die Hand gereicht hatte.

Schon am nächsten Tage trat Miß Sumner in die Klasse von Erwins besten Schülern ein, deren Stunden hauptsächlich mit dem Lesen klassischer Schauspiele oder mit freier Unterhaltung ausgefüllt wurden. Die Beweglichkeit, das übermüthige, herausfordernde Wesen der Amerikanerin wirkte förmlich elektrisierend auf die übrigen Glieder des Kreises und nie war in dem Schulzimmer soviel gescherzt und gelacht worden als seit dem Eintritt von Miß Carry. Auf Erwin wachte ihre launige, graziöse Art nicht weniger Eindruck wie ehemals und bald genug befand er sich wieder ganz in ihrem Bann. Und je bitterer er es empfand, daß ihm Klara seit jener Scene im Bureau mit einer noch absichtlicheren Mißachtung auswich, desto empfänglicher wurde er für Miß Carrys Liebenswürdigkeit.

An Gelegenheit, sich derselben zu erfreuen und sie zu erwidern, fehlte es nicht. Die Eigenart der Methode Beelitz brachte es mit sich, daß Lehrer und Schülerin in allerlei Situationen sich nahekamen. Wenn Erwin die Zeitwörter „geben“ und „nehmen“ einübte und zu diesem Zwecke der Miß ein Buch mit den Worten reichte: „Ich gebe Ihnen das Buch. Nehmen Sie das Buch!“ so geschah das selten, ohne daß sich ihre Fingerspitzen unter dem Buche berührten, und wenn Erwin zur Uebung „Ladenbesuche“ machen ließ, wobei er selbst die Rolle des Verkäufers übernahm, so fand sich auch da hinreichend Gelegenheit, mit Miß Carry vielsagende Blicke zu tauschen, die durchaus nicht zur Methode des Herrn Beelitz gehörten.

Eines Nachmittags nach Beendigung seiner Stunden machte Erwin, der inzwischen dank seinem ausreichenden Gehalt seine Garderobe wieder auf einen anständigen Fuß gebracht hatte, mit besonderer Sorgfalt Toilette. Befriedigt musterte er sich im Spiegel. Sein Gesicht war wieder blühend und frisch wie in seinen besten Tagen. Wangen und Kinn, sauber rasiert, zeigten einen leisen, kaum sichtbaren Flaum duftenden Puders, die Spitzen des Schnurrbarts waren keck emporgewirbelt. Der dunkle Anzug war funkelnagelneu und saß tadellos. Von den Händen hatte er jede Spur seiner früheren. Thätigkeit zu entfernen gewußt; sie waren wieder zart und weiß. Mit freudiger Genugthuung, mit eitlem Lächeln nickte er seinem Spiegelbild zu. Er fühlte sich wieder als Angehöriger einer bevorzugten Menschenklasse; vergessen waren alle Leiden, ausgelöscht alles Elend. Sorglos, glänzend, verklärt von dem Sonnenstrahl des Reichthums lag die Zukunft wieder vor ihm. Kein Zweifel, Miß Carry liebte ihn, und auf diese Liebe baute er seine Hoffnungen.

War es nicht ein Zeichen ihrer Zuneigung, daß sie neulich, nachdem die übrigen Schüler das Schulzimmer schon verlassen hatten, in ihrer gewinnenden Weise ihm gesagt hatte, sie würde sich sehr freuen, ihn einmal bei sich zu sehen? Zugleich hatte sie die Adresse ihrer elterlichen Wohnung genannt und hinzugefügt, daß sie vor der Essensstunde, zwischen fünf und sechs Uhr, stets zu Hause sei. Es lag auf der Hand, sie wünschte ihn mit ihren Eltern bekannt zu machen und ihren Beziehungen einen gesellschaftlich würdigeren Hintergrund zu geben.

Und nun schickte sich Erwin zu diesem Besuch in Carrys Elternhaus an; seine lebhafte Phantasie schaute rosige Zeiten und kürzte ihm so den weiten Weg bis zur Lexington Avenue, wo Mister Sumner seine Privatwohnung hatte. Der Dienerin, die ihm die Hausthür öffnete, nannte er seinen Namen mit der Bitte, ihn bei Herr und Frau des Hauses zu melden. Die Familie Sumner saß im Wohnzimmer, als die Dienerin mit der Nachricht eintrat, ein Herr Hagen wünsche Mister Sumner zu sprechen. Dieser zuckte verdrießlich mit den Achseln. „Hagen? Kenne ich nicht!“ erkärte er mit mißtrauischer Miene.

Carry aber erhob sich lebhaft. „Mister Hagen, sagen Sie? Der Besuch gilt mir, Papa! Führen Sie den Herrn ins Empfangszimmer!“ Und während die Dienerin ging, um den erhaltenen Befehl auszuführen, fügte sie, zu ihren Eltern gewandt beiläufig hinzu: „Mein Lehrer aus der Beelitz-Schule.“

Mister und Missis Sumner vertieften sich nach dieser Erklärung beruhigt wieder in ihre Zeitungen, wahrend ihre Tochter rasch an den Spiegel trat, mit prüfenden Blicken ihren Anzug musterte und die Stirnlocken ordnete.

„Erfreut, Sie zu sehen, Mister Hagen!“ Mit diesen etwas steifen Worten begrüßte sie zwei Minuten nachher ihren Gast, um, nachdem sie sich in einen Schaukelstuhl geworfen und Erwin zum Sitzen veranlaßt hatte, sogleich die lebhafte Frage folgen zu lassen: „Sagen Sie, wie kommen Sie auf den Einfall, sich meinen Eltern melden zu lassen?“

Erwin blickte überrascht, verständnislos auf und mußte sich ihre Frage noch einmal wiederholen lassen. „Ja aber, Miß Carry,“ entgegnete er dann, noch immer erstaunt, .„das ist doch selbstverständlich. Man kann doch nicht eine junge Dame zu sprechen wünschen!“

„Warum nicht?“

„Nun weil – weil das nicht schicklich wäre.“

„Nicht schicklich?“ Sie lachte. „Bei Ihnen drüben in Deutschland, Mister Hagen – mag sein. Bei uns aber behandelt man die erwachsenen Mädchen nicht wie Kinder, die man am Gängelbande führen muß.“

Erwin konnte ein Befremden nicht ganz unterdrücken. „Ich hielt es für unhöflich,“ versetzte er ernst, in steifer Haltung, „Ihre Eltern einfach zu übergehen.“

„Zu übergehen? Aber Mister Hagen, seien Sie doch nicht so unausstehlich pedantisch! Ihr Besuch gilt mir, Sie wollen ein wenig mit mir plaudern, nicht?“

„In erster Linie, freilich.“

„Nun sehen Sie! Lassen Sie also Mister und Missis Sumner bei ihren Zeitungen, die ihnen viel interessanter sind als unser Schnickschnack.“ Sie blickte, während sie ihren Schaukelstuhl in Bewegung setzte, schelmisch zu ihm hinüber. „Es thut mir leid, Mister Hagen, aber Sie müssen schon zusehen, wie Sie sich mit mir behelfen.“

Carry zeigte sich verführerischer als je in ihrer anmuthigen Koketterie; Erwin war entzückt, bezaubert und vergaß sehr schnell den peinlichen Eindruck, den er bei seinem Eintritt empfangen hatte. Sie plauderte von ihrem häuslichen Leben, von ihren Gewohnheiten und daß ihr Tagewerk darin bestehe, zu lesen, Musik und – Toilette zu machen. Jede Beschäftigung in der Hauswirthschaft sei ihr zuwider; sie begreife die deutschen Frauen nicht, die es nicht verschmähten, selbst in der Küche Hand anzulegen und ihre Töchter an den Kochherd zu stellen. In muthwilligster Laune sprudelte sie über von witzig boshaften Einfällen, so daß Erwin nicht aus dem Lachen herauskam. Im Fluge verging ihm die Zeit und fast erschrocken fuhr er empor, als die zierliche Stutzuhr auf dem Kaminsims die sechste Stunde verkündete. Miß Carry entließ ihn mit der bestrickendsten Liebenswürdigkeit. Wie im Rausche gelangte Erwin auf die Straße; erst die frische Luft ernüchterte ihn ein wenig und gab ihm die Fähigkeit zurück, über die Erlebnisse der letzten Stunde einigermaßen ruhig nachzudenken. Gdankenvoll schüttelte er den Kopf. Wunderliches Land dieses Amerika, sonderbare Sitten! Berückendes, seltsam widerspruchsvolles Geschöpf – diese Miß Carry!

(Fortsetzung folgt.)


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