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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


aufzugeben und den ihr unerträglichen Anblick zu fliehen – wenn er ihr wirklich gar so unerträglich ist, was ich, nebenbei gesagt, trotz alledem und alledem nicht recht glaube. Daß aber Sie das Rettungsseil, das Sie kaum erfaßt haben, ohne weiteres wieder fahren lassen, kann kein Mensch, kann auch die junge Dame nicht von Ihnen erwarten. Für Sie handelt es sich einfach um Sein oder Nichtsein. Ritterlichkeit ist eine schöne Sache, aber in Ihrer Lage ist sie Luxus, ja ein Verbrechen, das Sie gegen sich selbst verüben würden – der reine Selbstmord. Darum müssen Sie bleiben, Sie können ja so viel wie irgend möglich der Dame aus den Augen gehen.“

Nach einigem Hin- und Herreden fügte sich Erwin den Gründen des Freundes.

Während der ersten Tage war die Thätigkeit, die Erwin von seinem neuen Prinzipal angewiesen erhielt, lediglich eine passive; sie bestand hauptsächlich darin, den Stunden der Deutsch lernenden Schüler auf den verschiedenen Stufen als stiller Zuhörer beizuwohnen, um sich so eine umfassendere Kenntniß der Methode anzueignen. Dann nahm ihn Herr Beelitz zu sich in sein Zimmer und Erwin mußte, während der Direktor die Rolle eines Schülers übernahm, seine ersten praktischen Versuche im Unterrichten machen.

Nach acht Tagen war er so weit, daß ihm einige Anfängerklassen zugewiesen werden konnten. Mit allem Eifer, mit wirklicher innerer Befriedigung gab er sich seinem neuen Berufe hin. Seine Bewunderung der Lehrmethode des Herrn Beelitz steigerte sich, je gründlicher er sie kennenlernte, ja sie wuchs zu förmlicher Begeisterung. Wie geschickt, wie wohldurchdacht der Lehrgang aufgebaut war, wie staunenswerth der Erfolg, den der Lehrer damit erzielte!

Und diesem wissenschaftlichen Ergebniß entsprach der äußere Ertrag des Unternehmens in vollkommener Weise. Mehr als fünfhundert Schüler, aus allen Altersklassen, aus allen Schichten der Bevölkerung, besuchten die Schule, um hier Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch zu erlernen. Erwin wußte nicht, sollte er mehr den scharfen durchdringenden Verstand und die umfassenden Sprachkenntnisse oder die organisatorische Tüchtigkeit des kleinen, körperlich unscheinbaren Direktors bewundern. Es war etwas Widerspruchsvolles, Räthselhaftes im Wesen dieses Mannes, der so kühl erwog, so schlau berechnete, so kaltherzig und rücksichtslos seinen Vortheil wahrte und der doch, wenn auf seine Methode die Rede kam, mit dem echten Feuer der Begeisterung sprach, das auch den Gleichgültigen entzündete, der sich an seinen eigenen Ausführungen förmlich berauschte und zum Schwärmer wurde.

Dnrch diese wechselnden Eindrücke, die er von seinem Prinzipal empfing, und durch die Anforderungen, die seine neue Thätigkeit an ihn stellte, wurde Erwin so ganz und gar in Anspruch genommen, daß er das Peinliche seiner gelegentlichen Berührungen mit Klara nicht so empfand, wie er vorher befürchtet hatte. Klara hatte ausschließlich mit den geschäftlichen Dingen im Bureau zu thun und kam daher außer Sonnabends, wo sie den Lehrern die Anweisungen für ihren wöchentlichen Gehalt überreichte, mit Erwin fast nie in Verkehr. Wenn es aber geschah, so war ihr ganzes Wesen frostig, unnahbar ihre Stimme, ihr Gesicht hart und abweisend. Niemals richtete sich ihr Blick auf sein Gesicht, auch nicht, wenn sie mit ihm persönlich zu thun hatte; sie sah kühl an ihm vorbei und Erwin sagte sich mit schmerzlichem Bedauern, daß sie nichts vergessen habe, daß sie ihn hasse, aus voller Seele hasse.

Eines Tages ertheilte ihm der Schuldirektor einen Auftrag, der alle Empfindungen Erwins in neuen Aufruhr brachte. Herr Beelitz übertrug ihm die Ausbildung der Buchhalterin, die sich unter seiner Leitung im Unterrichten üben sollte, damit sie nöthigenfalls einige Kinderklassen zu übernehmen imstande wäre. Erwin wußte nicht, sollte er diese Anordnung des Direktors als eine willkommene Gelegenheit begrüßen, Klara zu versöhnen, oder sich der ganzen Angelegenheit entziehen. Er kam zu keinem Entschluß und ließ am Ende der Sache ihren Lauf. Die erste Stunde wurde festgesetzt. Von Herrn Beelitz begleitet, trat Klara in das Schulzimmer, und Erwin, mit Mühe seine Erregung bemeisternd, mußte mit dem Unterricht beginnen. Glücklicherweise half die Gegenwart des Direktors, welcher der Lektion beiwohnen zu wollen schien, beiden über die ersten Minuten hinweg und zwang sie zur Ruhe und Sammlung. Kaum aber hatten sie sich mühsam gefaßt, so erhob sich Herr Beelitz und verließ das Zimmer. Erwin kam ins Stammeln und Stottern und brach plötzlich mitten im Satze ab. Eine Pause schwülen Unbehagens, folternder Beklommenheit entstand, wöhrend beide, die Augen zu Boden gesenkt, sich vergebens bemühten, einen Ausweg aus dieser Pein zu finden. Endlich raffte sich Erwin auf. Lieber offen sprechen als dies Schweigen über das, was doch quälend zwischen ihnen lag und zum Austrag kommen mußte. Mit fester Stimme, die Augen entschlossen auf Klara heftend, begann er: „Fräulein Klara – Fräulein Wagner; ich bedaure, daß ich Ihnen eine Begegnung nicht ersparen konnte, die, wie ich sehr wohl begreife, Ihnen unerwünscht, peinlich sein muß. Ich hatte, als ich Sie hier das erste Mal sah, die Empfindung, daß es meine Pflicht sei, Sie mit meinem Anblick zu verschonen und die Stelle auszuschlagen. Aber der Zwang der Verhältnisse ist stärker als unser Wille – das ist meine einzige Entschuldigung.“

Ihre Blicke hafteten noch immer am Boden, doch die Gluth, die mit einem Mal ihr Gesicht bedeckte, das stürmische Ringen ihrer Brust verriethen ihre Erregung.

Erwin holte tief Athem und fuhr fort: „Fräulein Klara, vielleicht hilft die Zeit dazu, daß wir ein anderes besseres Verhältniß zu einander gewinnen, vielleicht gelingt es mir, Sie zu überzeugen. daß ich das Unrecht, das ich mir einst Ihnen gegenüber zu Schulden kommen ließ –“

Eine heftige Bewegung Klaras schnitt ihm das Wort im Munde ab. Sie war aufgesprungen, ihre Augen blickten düster und drohend, ihre Mienen zuckten.

„Sparen Sie Ihre Redensarten, Herr – Herr Hagen,“ stieß sie mit bebender Stimme hervor. „Wir beide haben Persönliches einander nicht mitzutheilen. Wir sind im Dienst des Herrn Beelitz und haben uns seinen Anordnungen zu fügen. Das ist das einzige Verhältniß, in dem wir zueinander stehen.“

Sie setzte sich, nahm ihren Bleistift und ihr Buch zur Hand und bedeutete ihn so, in seinem Unterricht fortzufahren.

Erwin biß sich erbleichend auf die Lippen. Ohne ein Wort weiter zu entgegnen, nahm er die Lektion wieder auf, aber seine Stimme klang rauh und schroff.

Auch während der folgenden Stunden verschwand bei Erwin die erbitterte Stimmung nicht. Die Kälte, die Klara ihm gegenüber fortgesetzt zur Schau trug, erinnerte ihn immer von neuem an jene verletzende Abweisung. Schwer lastete auf beiden die Erfüllung ihrer Pflicht, die Minuten schlichen mit unerträglicher Langsamkeit dahin, und wie von einem erdrückenden Alb befreit, athmeten sie auf, so oft Herr Beelitz im Schulzimmer erschien, um Erwin abzulösen und sich von den Fortschritten der Schülerin persönlich zu überzeugen. Mit gewissenhafter Genauigkeit hielt sich Erwin an den angegebenen Lehrgang; nie sprach er ein Wort, das durch diesen nicht vorgeschrieben war. Endlich, endlich – nach qualvollen Wochen erklärte der Direktor Klaras Ausbildung für beendigt.

Es war wenige Tage nach diesem von allen Theilen freudig begrüßten Ereigniß, Erwin hatte eben das Bureau betreten, um dort einen Auftrag des Herrn Beelitz auszuführen, als er plötzlich eine Stimme hörte, die ihm das Blut in die Wangen trieb. Im nächsten Augenblick stand er Miß Carry Sumner gegenüber, die sich in die Liste der Schüler eintragen ließ. Die junge Amerikanerin erkannte ihn sofort und streckte 1hm freudig überrascht die Hand entgegen „Ach, Mister Hagen – Sie! Sehr erfreut, Sie zu sehen.“

Erwin verbeugte sich mit mehr Artigkeit und erwiderte die Begrüßung mit mehr Liebenswürdigkeit, als er sie für die kaltherzige Amerikanerin übrig gehabt hätte, wenn Klara Wagner nicht Zeugin des Vorgangs gewesen wäre. So aber empfand er es als eine Genugthuung, mit der hübschen elegant gekleideten jungen Dame eine lebhafte Unterhaltung beginnen zu können. Miß Carry that sich keinen Zwang an; so kokett wie jemals blitzten ihre Augen den einstigen Verehrer an und mehr als einmal kam von ihren frischen Lippen ein lautes Lachen, als Erwin sich in allerlei launigen Erinnerungen an die gemeinschaftliche Oceanfahrt erging.

„Miß Carry, wissen Sie noch – unsere erste Begegnung auf dem Schiff?“

„Lassen Sie sehen! Ganz rechtt, es war am drltten Tage der Fahrt und ich hätte eben den ersten Besuch dieses teuflischen Quälgeistes, der Seekrankheit, erhalten – o, Mister Hagen, wie furchtbar! Wenn ich daran denke – brr, mich schaudert noch jetzt.“

„O Miß Carry, wie können Sie denken, ich hätte eine so unangenehme Erinnerung in Ihnen wachrufen wollen! Nein, mir schwebte jener Abend vor, der folgte. Die frische Luft auf Deck

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