Seite:Die Gartenlaube (1893) 799.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Erlebnisse einmal, wenn wir uns wieder sehen! Pech ist mein Lebenselement, ich bin daher im Zweifel, zu welcher Gattung von Wesen ich mich rechnen soll; das Wasser, die Luft, die Erde sind bevölkert; daß aber auch das Pech bevölkert ist, davon weiß die Naturgeschichte nichts und Pechvogel ist ein sonderbarer Ausdruck – mit verklebten Schwingen stiegt man nicht.“

Anzengruber hat diese Behauptung durch die That widerlegt: er hat späterhin doch „mit verklebten Schwingen“ seinen Hochflug gewagt, obwohl oder weil er als „Aushilfsschauspieler“ des Harmonietheaters den Tiefpunkt seines Daseins noch lange nicht erreicht hatte. Als mit dem Zusammenbruch dieser Zufallsbühne sogar jene bescheidene Einnahmequelle versiegte, verdang sich Anzengruber als „externer Mitarbeiter“ dem „Kikeriki“, einem vielgelesenen Witzblatt, das seine Mitarbeiter mit kärglichstem Zeilenlohn bedachte; Gelegenheitscouplets für Volkssänger, Novellen zu 15 bis 20 Gulden für die Unterhaltungsbeilagen der „Morgenpost“ und des „Wanderers“ hätten Mutter und Sohn auf die Dauer schwerlich vor dem buchstäblichen Verhungern geschützt, hätte sich nicht endlich ein Verwandter Anzengrubers, Adjunkt (heute Gerichts-Präsident) Dr. Ritter von Holzinger, mit Eifer und Erfolg bemüht, dem Siebenundzwanzigjährigen eine Tagschreiberstelle bei der Polizeidirektioll zu verschaffen. In diesem Amt schrieb er, berathen und befeuert „von meiner Muse? nein! von meiner Mutter“, nochmals ein Stück, wiederum nur, wie er von vornherein mit Entsagung meint, für seine Schreiblade. „Was dabei herauskam, weiß jeder, der den ‚Pfarrer von Kirchfeld‘ kennt.“

Mit einem Schlage war nun Anzengruber, nach seinem eigenen Worte, „oben“. .Sein Name war gekannt in allen deutschen Landen; neue Meisterschöpfungen der Tragik und Komik, „Der Meineidbauer“, „Die Kreuzelschreiber“, „Der G’wissenswurm“, „Das vierte Gebot“ folgten; der Erzähler stellte sich mit seinem „Gottüberlegenen Jakob“, dem „Sündkind“, „Schandfleck“ und „Sternsteinhof“ in die erste Reihe der deutschen Novellisten und Romanschreiber. Aber reine Lebensfreude sollte ihm in seiner Meisterzeit noch weniger beschieden sein als in seiner Werde- und Wanderzeit. In den Jahren seiner künstlerischen Vollreife fand er in Wien keine Truppe und keine Bühne für dieselben Stücke, die nun nach seinem Tode gleichzeitig am Burgtheater, im Deutschen Volkstheater und im Raimundtheater zu Ehren kommen. Seine Mutter starb ihm und bereitete ihm damit den ersten, niemals verwundenen Schmerz. Und was ihm sonst noch in Kunst und Leben an Prüfungen und Bitternissen zugemessen wurde, gefährdete mitunter selbst seinen „gußeisernen Humor“. Unbeirrt durch alles persönliche Mißgeschick, hat er aber bis zu seinem Lebensende in ruheloser Arbeit als Denker und Dichter für die Sache des Volkes, als Anwalt aller Mühseligen und Beladenen sich eingesetzt mit dem heiligen Ernst eines Mannes, der alle Noth und jedes Leid, das er an sich selbst erfahren, den Mit- und Nachlebenden ersparen will. Der Größe dieser Gesinnung sind seit Anzengrubers Heimgang nicht allein die Landsleute mehr und mehr inne geworden. Nun suchen sie an dem Toten zu sühnen, was an dem Lebendigen versäumt wurde. Wehmüthige Betrachtungen der Art erfüllten uns, als bei der jüngsten Festvorstellung des „Meineidbauers“ im Burgtheater Tobias die Worte sprach: „Amol im Leben hat a jeder sein Kreuzweghof g’habt, wo’s ihm grimmig schlecht ’gangen is; mit Gott’s Hilf find’t aber auch jeder amol sein Altranning, wo er Großknecht werden kann.“ Die volle Freude dieser Genugthuung ist dem Dichter nicht geworden: er hat es nicht mehr mit eigenen Augen geschaut, daß sein „Meineidbauer“ eine Heimath auf dem Burgtheater sich errungen hat. Unser Trost muß sein, daß nach Roseggers Weihegruß

„– auf dem Grab ein Blümlein steht, statt Allerseelenkerzen,
Das lacht uns zu: Er ist nicht hier, er lebt in Euren Herzen.“


Ein Lieutenant a. D.

Roman von Arthur Zapp.
 (7. Fortsetzung.)

Am anderen Tage machte sich Erwin in freudig banger Erwartung zeitig auf den Weg nach dem Madison Square. Schuckmann hatte ihm ein paar Dollar aufgedrängt – als „Vorschuß auf das Zukunftsgehalt“ – damit er sich unterwegs mit neuen Stiefeln und einem andern Hut ausstaffieren konnte.

Als er die Treppe des großen eleganten Gebäudes hinaufstieg, an dessen Vorderseite ein Riesenschild mit den weithin leuchtenden Worten: „Sprachschule von M. D. Beelitz“ befestigt war, da klopfte ihm das Herz gewaltig. Seine ganze Seele war nur von dem einen Wunsch erfüllt, nicht zu spät, nicht vergebens gekommen zu sein.

Die Thür zu der Schule öffnete ihm ein brünett aussehender Herr, der auf Erwins Frage nach Mister Beelitz mit südlicher Lebhaftigkeit auf französisch entgegnete: „Herr Beelitz? Ja, der ist hier!“ und dann schwerfällig in schauderhaftem Englisch hinzufügte: „Bitte, kommen Sie!“ Der Franzose führte Erwin zu einer der in den Flur mündenden Thüren, klopfte, öffnete und ließ ihn eintreten. Erwin befand sich in einem kleinen einfach ausgestatteten Zimmer. An einem Schreibtisch in der Nähe des Fensters saß ein Herr, der jetzt von seiner Arbeit aufblickte und sich erhob. Seine hellen blaugrauen Augen mit listig forschendem Ausdruck auf den Besucher heftend, näherte er sich ihm und fragte nach seinen Wünschen. Erwin nannte seinen Namen. Er sei gekommen, um sich Herrn Beelitz auf dessen brieflichen Wunsch vorzustellen.

Der andere erwiderte kurz: „Mein Name ist Beelitz,“ deutete auf einen Stuhl und setzte sich seinem Besucher gegenüber.

Erwin sah befangen und peinlich berührt vor sich nieder. Er fühltw, wie die Augen des andern sich von neuem forschend auf ihn richteten und gleichsam jeden Zoll an ihm einer eingehenden Prüfung unterwarfen. Nach einer Weile unterbrach Herr Beelitz das Schweigen. „Haben Sie schon unterrichtet?“

„Nein!“ Erwin ärgerte sich, daß er noch immer nicht lügen gelernt hatte. Wie oft hatte ihm Schuckmann gepredigt: „In Amerika muß einer alles verstehen!“

„Wie lange sind Sie im Lande?“

„Sechs Monate.“

„Sprechen Sie englisch?“

„Nur wenig.“ Erwin brachte es stotternd heraus. Sein Herz klopfte fast hörbar; in qualvoller Spannung hing sein Blick an des andern Lippen. Jetzt kam sein Verdammungsurtheil!

„Das ist mir lieb,“ hörte er da Herrn Beelitz sagen, und die gleichmüthige ausdruckslose Stimme klang ihm wie Engelsmusik, „es ist mir im Interesse des Unterrichts lieb, wenn meine Lehrer die Muttersprache ihrer Schüler nicht sprechen.“

Erwin blickte fragend verwirrt zu Beelitz hinüber. Er wußte nicht, ob er recht gehört habe. Wie konnte sich denn ein Lehrer seinen Schülern verständlich machen, wenn er nicht imstande war, in ihrer Sprache zu ihnen zu reden? Doch Herr Beelitz ließ ihm nicht Zeit, über diese unlösbare Frage nachzudenken, sondern examinierte weiter: „Haben Sie schon von meiner Unterrichtsmethode gehört?“

Erwin überlegte, doch nur eine Sekunde; zu lügen wäre in diesem Falle unklug gewesen. „Leider nein,“ entgegnete er kleinlaut. Nicht ein Muskel bewegte sich in seines Gegenübers hartem, knochigem Gesicht, dessen Hauptzierde ein starker Schnurrbart war, röthlich blond wie das kurze krause Haar, und dessen charakteristische Züge auf eine eiserne Willenskraft und einen scharfen, kühl abwägenden Verstand schließen ließen. Ruhig stand Herr Beelitz auf, ohne eine Spur von Verdruß oder Empfindlichkeit zu zeigen.

„Kommen Sie!“ sagte er und ging mit Erwin auf den Flur hinaus. Vor einer Thür auf der andern Seite des Ganges stand er still, öffnete leise und trat behutsam auf den Zehenspitzen ein. Sein Besucher folgte ihm in höchster Verwunderung.

In dem großen Zimmer saß auf drehbaren Stühlen im Halbkreise etwa ein Dutzend Personen beiderlei Geschlechts in den verschiedensten Altersstufen zwischen dem sechzehnten und sechzigsten Lebensjahre. Vor der Tafel, die sich auf einem Holzgestell neben der Thür befand, stand schreibend ein junger Mann.

Herr Beelitz machte nach seinem Eintritt mit sehr verbindlichem Gesichtsausdrnck und mit ersichtlicher Sorgfalt ein paar Verbeugungen, die offenbar höflich und elegant sein sollten, aber der gesellschaftlichen Schulung des Direktors kein allzu günstiges Zeugniß ausstellten. Dann winkte er dem Lehrer, fortzufahren,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_799.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2023)