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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

danke Dir!“ Ich wandte mich rasch um und schritt der Thüre zu, da rief sie noch einmal meinen Namen: „Viktor"“

Sie hatte das Kind auf den Sessel gelegt von dem sie sich erhoben. „Vergiß Dein Versprechen nicht!“ bat sie mit versagender Stimme und streckte mir die gefalteten Hände entgegen.

„Nie, Leni, nie!“

„So leb' wohl, Viktor!“

Ich konnte nicht antworten, Ich sehe sie noch heute vor mir stehen. Sie trug ein helles faltiges Hauskleid, ihre leichte Gestalt hatte etwas Ueberirdisches, wie sie sich abhob von dem dunklen Hintergrund.

Und dieses eine Mal suchten sich unsere Augen so, als ob nichts dazwischen stände, was diesen Blick zur Sünde machte. Wer solchen Blick kennst der weiß, daß er weher thut als alle anderen Schmerzen der Welt zusammen, der weiß, daß man ihn brennen fühlt, so lange man lebst und das Gefühl, sich vorwurfsfrei benommen zu haben, ach, das ist erst dann ein Trost, wenn die ersten wahnsinnigen Schmerzen sich abgestumpft haben. In jener Minute hab' ich es nicht als Erleichterung empfunden! Ich stürzte fort, elend wie noch nie. Ich wußte, ich sah sie nicht wieder.

Fünf Jahre später, in dem großen herrlichen Jahre 1893 war es , da erhielt ich ihre Todesnachricht. Fünf lange Jahre hatte sie gebraucht zum Sterben! Tante Klara schrieb es mir; der Brief war fast unleserlich von den Thränen, die auf das Papier gefallen waren. Drinnen lag ein kleines Briefchen.

Ich weiß noch genau, wo es war, als diese Botschaft kam; man vergißt bei großen Schmerzen und großem Glück auch nicht die kleinsten Nebendinge. In dem Salon eines Schlosses bei Paris war es, um Weihnachten. Man hatte die Möbel die ihre ursprüngliche hellblaue Farbe kaum mehr erkennen ließen, bunt durcheinander geschoben; die Kameraden saßen bei einer Riesenbowle rauchend und spielend um den Tisch m der Mitte. Einige seidene Fenstervorhänge waren theilweise heruntergerissen; man hatte den schweren Stoff vielleicht gebraucht zum Schutz gegen die Kälte, oder er war verbrannt von den Franctireursbanden, die vor uns hier gehaust hatten. Das zarte Muster des Riesenteppichs ließ sich kaum noch unterscheiden. Am verstimmten Flügel sang ein junger Kamerad ein schwermütiges Lied; ein Stalleimer gefüllt mit Schnee und Eis, stand mitten in einer trüben Lache auf dem Fußboden, und die Ordonnanz hockte davor, die Champagnerflaschen drehend. Dazu der leichte Rauch von Cigaretten und Pfeifen und das Lachen und Sprechen der Herren die bemüht waren, eine seltene Konifere aus dem Park als Weihnachtsbaum aufzuputzen oder gleich mir die soeben eingegangenen Feldpostbriefe zu lesen oder gar Kisten zu öffnen.

Ich hatte selten oder vielmehr nie von Tante Klara einen Brief bekommen, so daß ich ihre Handschrift nicht kannte. Der Poststempel war sehr verwischt Ich wandte den Brief erst eine Zeitlang nach rechts und links, bemüht, den Schreiber zu errathen; dann - es war in der Dämmerung - setzte ich mich an einen der beiden großen Kamine, in denen mächtige Holzscheite flammten, um die Zeilen zu lesen, und da entzifferte ich mühsam bei dem flackernden Schein die Worte:

„Unsere Leni ist gestern nachmittag sanft entschlafen! Mein lieber Viktor, ich bin ganz gebrochen! Sie war nicht lange zu Bett, aber seit der Geburt der kleinen Hella kränkelte sie beständig. Dann, vor ungefähr acht Tagen, war sie nicht mehr imstande, sich aufrecht zu halten. Sie starb bei völliger Klarheit über ihren Zustand und gab mir noch einen Tag vor ihrem Tode beiliegendes Briefchen mit der Bitte, es Dir zu senden, sobald sie entschlafen sei. Ich erfülle den Willen meines theuren Kindes. - Ach Viktor, ich bin namenlos unglücklich! Die beiden armen Mädchen Mutterlos und - unter Verhältnissen, die entsetzlich schwer sind; ich kann es nicht hierher schreiben. Leni wäre ihnen so nöthig gewesen, so sehr!

Verzeihe, wenn ich so durcheinander schreibe! Bayer steht als Landwehroffizier in X; er hat das Schwere nicht mit angesehen. Ich wollte ihn rufen lassen, aber Leni wünschte es durchaus nicht.

Viktor, welch ein furchtbares Jahr! Ich bin so sterbensmüde, und doch, ich darf noch nicht ruhen, denn wer soll die Kinder erziehen? Denke unser in alter Treue und kehre gesund heim! Gott schütze Dich!

Deine trostlose alte Tante
Klara von Brenken.“

Ich stand auf, trat in eine der tiefen Fensternischen und legte den Kopf an die Scheiben. Ausgelitten! Erlöst! Das waren die ersten Empfindungen, sie gaben mir ein Gefühl von Erleichterung. Ich hatte nie an sie denken können ohne quälende Pein. - Dir ist wohl, Leni, schlafe sanft! Nun kann keine Roheit Dich mehr verletzen, keine aufschreiende Sehnsucht Dich ruhelos umhertreiben, Du fühlst nichts mehr, Du schläfst!

Und ich konnte ruhig das kleine Briefchen öffnen, um es in dem grauen Schneelicht von draußen und dem herüberdämmernden Lampenschein zu lesen. Sie schrieb:

„Ich habe allezeit gebetet für Dich; Gott gebe Dir gesunde Heimkehr, mein lieber Viktor, und viele glückliche Jahre! Es grüßt Dich noch einmal mit Dank für alles, was Du thun wirst,

Deine Leni.“

Und darunter stand von ungeschickter Kinderhand, die offenbar von der Mutter geführt worden war:

„Lieber Onkel, Mütterchen sagt, ich soll Dich immer sehr lieb haben. Vergiß auch nicht Deine

kleine Bine.“

Da erst liefen mir die Thränen aus den Augen.

Hinter mir jubelten die Kameraden, sie hatten Weihnachtsgeschenke von daheim ausgepackt und freuten sich darüber, dazwischen kamen Nachrichten von einem Gefecht, das heute stattgefunden haben sollte, Vermuthungen über einen zu erwartenden Ausfall der Pariser nach unserer Seite und so weiter. Das Leben des großen Krieges, dieses einzigen Siegeszuges, der wie ein Märchentraum uns emportrug zu stolzer ungeahnter Höhe! Ich starrte hinaus in den öden verlassenen Park - er war so öde wie meine Zukunft. Wie mancher brave Junge lag da in Frankreichs Erde, der jäh einem großen Glück entrissen wurde! Mich hatte das Schicksal verschont, um mich weinte keine schluchzende Braust keine verzweifelte Gattin, keine trostlose Mutter - sie hatte ich noch vor dem Ausmarsch begraben - wie ich keinen mehr besaß, der sich so recht freuen würde über meine Heimkehr.

„Vergiß lacht Deine kleine Bine!“ klang es da in mein Ohr.

Dieses Kind! Ach Gott, es würde mich ja nicht vermissen, es kannte mich ja gar nicht und hatte einen Vater, der - - Nein, nein! Ich will versuchen, es zu lieben, will versuchen, ihm eine Stütze zu sein, sollte es dereinst keine bessere finden und - sollte ich heimkehren. Man war doch schließlich mitten im Leben und Sterben! Leni, arme kleine Leni, schlaf' ruhig - ich versprach's Dir ja! Und im Geiste sah ich ihr Grab. Gestern mochten sie sie eingesenkt haben in unsere Familiengruft zu Wardelingem

Wir waren beide Wardelinger Kinder, sie die Tochter von meines Vaters verstorbenem Bruder. Die Brenkens stammten aus Wardelingen; das uralte Haus an der Marienkirche mit seinen vorgeschobenen Stockwerken, über dessen rundbogiger Pforte unser Wappen in halbverwittertem Sandstein prangte, das hatten unsere Voreltern bewohnt zu der Zeit, als noch die Ouitzows das Land beunruhigtem; damals war ein Brenken Lehensherr der Burg Wardelingen gewesen. Mein Großvater erwarb das alte Haus, kurz bevor es wegen Baufälligkeit abgebrochen werden sollte, und ließ es wiederherstelle und den verwilderten Garten in stand setzen. Bewohnt wurde es nicht von uns, bis mein Onkel starb und mein Vater es als Zuflucht der in dürftigen Verhältnissen zurückgebliebenen Tante Klara anbot, die dieses Asyl in dem kleinen märkischen Neste für sich und ihre Kinder dankbar annahm. Und ich, angelockt durch alte Familienerinnerungen, hatte nicht geruht bis ich in das Kavallerieregiment, das dort lag, eintreten durfte. Wenn ich geahnt hätte, was meiner dort wartete - und doch, ich hätte die Erinnerung daran um alles nicht misse möge, um alles nicht!

Und nun schlief sie dort neben ihren Schwestern und den alten längst vergessenen Familienmitgliedern. Hoffentlich hatte man sie dort bestattet und nicht etwa in die Bayersche Familiengruft geschaftt! Im Tode wenigstens sollte sie heimkehren zu uns.

„Herr Premier! - Brenken!“ riefen ein paar Stimmen hinter mir, „kommen Sie doch, der Punsch wird kalt!“

„Ich danke, meine Herren! Ich habe Briefe zu schreibe,“ antwortete ich, suchte in dem Gartensaal, der mir als Quartier angewiesen war, meine Schreibmappe aus dem Koffer hervor und kritzelte zwei Briefe hin bei einem Stümpfchen Licht - den einen an ein bekanntes Blumengeschäft in Berlin mit dem Auftrag, das Herrlichste, was es eben an Blumen gebe, nach Wardelingen zu schicke, den andern an eine Spielwarenhandlung in Nürnberg mit der Weisung, die schönste Puppe, die am Ort Zu haben sei, an

Fräulein Sabine Bayer in Wardelingen zu senden. Auf eine Visitenkarte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_794.jpg&oldid=- (Version vom 28.2.2017)